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@ Lügenpresse-Rufer: Der Donnergott wird's nicht richten

Veröffentlicht am 23.12.2015

Wenn bei AfD und PEGIDA die "Lügenpresse!"-Rufe erschallen, weckt dies beim Autor die Instinkte des Paläontologen. Es scheint, als lebten da tatsächlich noch, mehr als ein Jahrhundert nach der Etablierung der modernen Evidenzkritik und mehr als ein halbes Jahrhundert nach der Institutionalisierung der Medientheorie, Menschen, die an die Möglichkeit von der Wahrheit in den Medien glauben.

Wer inbrünstig von "Lüge" spricht, wenn die eigene Wahrheit sich im Medium nicht wie in einem stillen Bergsee spiegelt, der glaubt offensichtlich, dass eine solche Spiegelung möglich und wünschenswert ist. Den rüstig-entrüsteten Rabatzrentnern und auftrumpfenden Wutwürstchen ist es dabei wohlgemerkt nicht um "Lüge" und "Wahrheit" im höchsten platon'schen Sinne zu tun, sondern um eine gefühlte, empfundene Wahrheit. Ums Kaminfeuerchen der Seele. Dass es doch wieder so hübsch und heimelig lodern und prasseln möge, wie es früher nie loderte und prasselte! Damals, in goldenen Tagen, als man sich ein wenig vom Weltbekriegen erholen durfte.

Wie treuherzig, ja anrührend! Man möchte diese verwirrt durchs abgebrannte Pommerland geisternden Seelen an die ätherische Hand nehmen, selbige tätscheln, und ihnen schonend beibringen: Ihr, die ihr da reinen Herzens die Wahrheit sucht, aber nicht mehr findet, auf euren Bildschirmen, auf euren Zeitungsseiten, in den Funksignalen – ihr sucht vergebens! Riefet ihr: "Idiotenpresse!", so würde man euch beipflichten wollen: Jawohl, eine Idiotenpresse, die gibt es in der Tat – ein "Idiot" ist, so wollten es die alten Römer, eine bloße Privatperson und mithin eine, die im öffentlichen Diskurs herumstümpert. Als "Idiot" darf mit Fug und Recht bezeichnet werden, wer seine Privatmeinung verabsolutiert und jene biederen Prämissen, auf der seine Urteile fußen, weder offenlegt noch reflektiert. Von diesen gibt es, auf rechter und linker Seite wie auch in der grauen Mitte, tatsächlich eine ganze Menge.

Aber "Lügenpresse"? Vom Nazi-Unterton einmal abgesehen: Das ist putzig. Schauet, es hat sich niemals so verhalten, dass sich Wahrheit Schwarz auf Weiß, Kathodenstrahl auf Schirm, Radiowelle auf Trommelfell offenbarte. Menschen – nun zückt eure Schiefertäfelchen! – sind geleitet von Interessen: Sie wollen mal dies, mal das, manchmal sogar beides und wenn nicht dies, dann überdies. So kommt's, dass die Verlautbarungen der Medien sich nicht transparent auf eure, mit Verlaub: idiotische Wahrheit, siehe oben, öffnen – die Wahrheit des Flüchtlings, des Staatshaushalts, der Solareffizienz, der Kartoffelblüte. Ein liberales Gemüt, so raunt man, neige dazu, liberale Standpunkte zu vertreten, Konservative mitunter gar konservative, von Linken wird berichtet, dass sie linkem Gedankengut zuneigen und die unentschlossene Mitte, kolportieren die Eingeweihten, vermittelt oft Unentschlossenes. Was Erhard Eppler in seiner Autobiographie Links leben (2015) über die Politik schreibt, gilt auch für die Medien: "Das Normale in der Politik, das lernte ich später, ist, wie im Leben überhaupt, der unterschiedliche Blick auf die Wirklichkeit. Kein Marktradikaler wird höhere Steuern auf sehr hohe Einkommen für richtig halten, denn für ihn sind Erfolg und Leistung dasselbe. Ein Sozialdemokrat sieht dies anders. Er will, was der Marktradikale ablehnt: sozialen Ausgleich. Aber lügen tut deshalb keiner. Kurz: Wenn in der parlamentarischen Auseinandersetzung der Vorwurf der Lüge erhoben wird, geschieht dies in 98 von 100 Fällen zu Unrecht."

All dies mag die Grundfesten eurer rechtschaffenen Existenzen erschüttern, aber haltet euch fest, es kommt noch schlimmer: Nicht um zu wissen, was in der Welt sich zuträgt, öffnen wir beim Milchkaffee mit besorgtem Blick die Zeitung. Obacht, ihr patriotisch-abendländischen Evidenzritter, die ihr die Nachrichten in euch aufsaugen möchtet wie eure muselmanischen Schreckgespenster den Heiligen Koran: Die Zeitung lesen wir, um zu wissen, was in der Zeitung geschieht. Den Fernseher schalten wir ein, um zu wissen, was im Fernsehen geschieht. Ins Internet loggen wir uns ein, um zu wissen, was im Internet geschieht. Nicht wie mit dem Heiland verhält es sich, der einst sein edles Antlitz in Veronikens Schweißtuch presste, nicht wie mit König Abgars nach gleichem Verfahren verfertigtes Insta-Gramm.

Wer darauf hofft, dass sich uns die Wahrheit – eher: die je eigene Version der Wahrheit, etwa jene von flächendeckend vergewaltigenden Sarazenen im Brandenburgischen oder maultaschenschmarotzenden Osmanen im Württembergischen – auf den Titelseiten und auf den Touchscreens offenbaren möge wie ein numinoser Donnergott dem dehydrierten Wüstenvater, der stößt ins selbe Horn wie die vollbärtig nicht zu Ende geborenen Sinndealer an den Lies!-Ständen: Man hat es halt doch am liebsten komfortabel; man hätte gerne, dass ein mal himmlisch-autokratischer, mal irdisch-öffentlich-rechtlich-privater Überpapa die Wahrheit anstelle der Lüge verkündet. In Großbuchstaben, ganz weit vorne und unmissverständlich insbesondere für diejenigen, die sich selbst am besten verstehen.

Die Lüge sei nur gealterte Wahrheit, sprach der Dichter Constantine Caváfis. Aber mehr noch gilt, dass die Wahrheit nur gealterte Lüge ist.