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Wir Bauern auf der Wolkenscholle. Warum uns die Ära der Mobilkommunikation ein neues Agrarzeitalter beschert

Veröffentlicht am 07.09.2023

Die westliche Moderne träumt von Mobilität und damit verbundener Unabhängigkeit, Ungebundenheit, Freiheit, Leichtigkeit. In der Moderne reise man "mit leichtem Gepäck", konstatierte der Schriftsteller Ernst Jünger, der in seinem schwäbischen Gärtchen wie zum Ausgleich Kräuter pflanzte und sich mit behäbigen Schildkröten umgab. Als Urform der Freiheit hat die Philosophin Hanna Ahrendt die Bewegungsfreiheit bezeichnet. Mit einem leicht abgewandelten Zitat des Juristen Carl Schmitt liesse sich sagen: Frei ist, wer über seinen Aufenthaltszustand entscheidet. In den älteren agrarischen Gesellschaften trugen Menschen meist schweres Gepäck. Sie lebten dauerhaft an klar bestimmbaren Orten und der Ort lebte in ihnen. Bauern konnte ihre Höfe nicht verlassen, ohne ihre Existenzgrundlage zu verlassen. Sie klebten am Hof wie die Erde an den Sohlen ihrer Stiefel.

Entsprechend geriet die bäuerlich-sesshafte Lebensform im Zuge der Modernisierung in Misskredit, wenn sie nicht gerade nostalgisch verklärt wurde. Moderne Grossstadtbewohner, schrieb Oswald Spengler in seinem geschichtsmasochistischen Hauptwerk Der Untergang des Abendlandes, zeichneten sich aus durch eine "tiefe Abneigung gegen das Bauerntum". Urlaub auf dem Bauernhof, Urdinkelbrötchen und Lektüre des Landlust-Magazins, wie wir sie heute aus urbanen und Agglomerations-Milieus kennen, sind dahingehend vielleicht nichts weiter als Triumphgesten.

Aber haben wir im Mobilitätszeitalter die agrarische Ortsgebundenheit wirklich überwunden? Haben wir die sesshafte Lebensform wirklich hinter uns gelassen? Oder hat sich die konservative Kulturkritik umsonst gegrämt? In der Tat können deren Vertreter unbesorgt sein. Die kulturelle Evolution bringt immer auch Atavismen mit sich. Ausgerechnet der durchschlagende Erfolg des Internets und der Mobilkommunikation hat dazu geführt, dass das Agrarzeitalter zurückgekehrt ist. Nicht als Tragödie, nicht als Farce, sondern als tragikomische Farce. Die mit utopischen Techno-Visionen überfrachtete Zeit der grenzenlosen Mobilität und der drahtlosen Kommunikation schlägt die Moderne des leichten Gepäcks mit ihren eigenen Waffen. Auf dem Höhepunkt der vermeintlichen Ortsungebundenheit sind wir wieder an die Scholle gebunden. Die aber klebt nicht mehr an jenem Bauernstiefel, aus dem der Philosoph Martin Heidegger den "Zuruf der Erde" zu vernehmen glaubte. Diese Scholle klebt an Ohr und Daumen, verfügt über Bluetooth und ist zugleich Wolke, genauer: Cloud.

Heute sind wir alle paradoxe Bauern auf der Wolkenscholle. Dass unsere technischen Geräte und Kommunikationsmedien immer handlicher werden, bedeutet faktisch keine Befreiung von der Ortsgebundenheit der alten agrarischen Gesellschaften, sondern den Eintritt in ein Zeitalter des totalen Bauernhofs. Wie Bauern an ihre Höfe gekettet waren, ketten wir uns an Kommunikationsgadgets und Miniaturwerkstätten der immateriellen Arbeit. Mehr noch: Der Bauernhof des mit portablen technischen Prothesen ausgestatteten Menschen erstreckt sich nun über den gesamten Globus.

Wie der Bauer lebt dieser Mensch an einem klar benennbaren Ort: da, wo er Empfang hat. Da, wo eine Steckdose ist. Also fast überall. Was den Siedlern der Vormoderne Wasserquellen und fruchtbare Schwarzerdeböden waren, sind ihm Glasfasernetze, Satelliten und Energiequellen. Dabei ist er nicht länger konkret nahbar, sondern abstrakt erreichbar. Die Generation der unnahbaren Erreichbaren vermeint, fernab der zähen Geschichtsmasse aus Ort, Familie, Tradition zu existieren. Als "digitale Nomaden" werden ihre Angehörigen bezeichnet – Menschen, die ihrem Web-Gewerbe mal in einer Jugendherberge auf Hawaii, mal in einem Café in Brooklyn, mal in einer Oase in Marokko nachgehen. Es scheint, als seien erst mit dieser Existenzweise romantische Vagabundenträume wie jene aus Joseph von Eichendorffs "Aus dem Leben eines Taugenichts" (1823) oder aus Hannes Waders Song "Heute hier, morgen dort" (1972) in Erfüllung gegangen: "Heute hier, morgen dort / Bin kaum da, muss ich fort […] Dass man mich kaum vermisst / Schon nach Tagen vergisst / Wenn ich längst wieder anderswo bin / Stört und kümmert mich nicht."

Auf den ersten Blick wirkt der digitale Nomadismus tatsächlich wie die ultimative Erfüllung des Traums von einem Leben, das nicht länger dem Terror des Territorialen ausgesetzt ist. Doch in Wahrheit lebt diese Generation an einem totalen Ort unter einem totalen Himmel, als Mitglieder eines unübersehbaren, unerbittlich Loyalität einfordernden Familienclans, für den der Medientheoretiker Marshall McLuhan in den 1960er Jahren den Begriff „globales Dorf“ prägte. Erst mit dem Internet und der drahtlosen Kommunikation ist dieses Dorf Realität geworden. Die drahtlose iXistenz markiert die Evolution der Menschen von Landwirten zu Telewirten. Ihr örtlicher Lebensmittelpunkt ist mitnichten verschwunden, sondern dehnt sich mit jeder Vielfliegermeile und mit jedem Wireless-Login aus. Ja, ihre Ortsgebundenheit ist vielleicht noch grösser als die Ortsgebundenheit früherer Generationen, die Haus und Hof immerhin hinter sich lassen und ein neues Leben an einem anderen, weit entfernten Ort beginnen konnten.

Der technologische Wandel hat im 21. Jahrhundert dazu geführt, dass, wie im Märchen "Der Hase und der Igel", der Ort, den wir hinter uns lassen, immer schon dort auf uns wartet, wo wir ankommen. Heimat ist Schicksal als Login. Die Produktionsmittel des Bauern, etwa ein Kaltblüter, ein Mastschwein oder ein Rübenacker, hatten den Vorteil und den Nachteil zugleich, dass sie in keine Westentasche passten. Wenn der Bauer die Kirmes im Nachbardorf besuchte, hatte er seine Tiere und Pflanzen höchstens im Hinterkopf, nicht aber in physischer Form bei sich. Die neuen Technotools sind da raffinierter. Sie bilden die Avatare der Felder und Tiere en miniature. Schweine, Kühe, Hühner, Weiden, Höfe, Äcker, Ställe, Tröge und Scheunen sind uns heimlich gefolgt. Sie haben nur neue Formen und Namen angenommen: Smartphone, Laptop, E-Book-Reader, Notepad, Kopfhörer.

Auf der digitalisierten Synchronfarm des 21. Jahrhunderts verlangen die Agrar-Avatare ohne Unterlass nach Pflege und Futter. Ob beim Urlaub auf den Malediven oder beim Spaziergang durch den Märchenwald von Siat, stets ertönt ihr Geblöke. Warf die Sau weiland in einigermassen regelmässigen Abständen Ferkel, so entwinden sich heute ohne Unterlass Bits und Bytes aus den Posteingängen und Freisprechanlagen. Musste früher wöchentlich die Jauchegrube geleert werden, so misten Telewirte täglich ihre Mailaccounts aus. In der Ära von mobiler Kommunikation und mobiler Arbeit hat sich das Unkraut in Spam verwandelt, die Ernteausfälle in Finanzkrisen, die Maikäferplagen in Virenattacken und die Blitzschläge in Akubrände.

Wir sind gefesselt an portable Orte, die eine noch perfidere Macht ausüben als der terrestrische Fixpunkt der Farm. Denn diese Orte haben sich uns angepasst, sie haben von uns gelernt. Sie sind genauso mobil wie wir. Sogar unserem Hang zu Hygiene, Antiseptik, einfacher Handhabung und Sicherheit kommen sie entgegen. Unsere Schweine stinken und grunzen nicht, sie klingeln und vibrieren. Unsere Kühe geben keine Milch, sie sondern Informationen und Dateianhänge ab. Unsere Gänse werden nicht vom Fuchs gestohlen, sie haben gerade kein Netz. Wir können uns ihrer subtilen, servilen Gewalt so wenig entziehen, wie sich der Bauer dem Diktat der Futtertröge und Weizenfelder entziehen konnte. Der Blackberrybauer ist verwachsen mit einer sublimierten Scholle, die keinen aufdringlichen Güllegestank, sondern diskreten Elektrosmog verströmt. Deshalb wird sie bislang auch kaum bemerkt, geschweige denn als Scholle wahrgenommen. In Luchino Viscontis Verfilmung von Giuseppe Tomasi di Lampedusas Roman Der Leopard (1958) fällt der so zynische wie wahre Satz: „Alles muss sich ändern, damit alles so bleibt, wie es ist.“