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Globalisierung im Mikrokosmos

Veröffentlicht am 10.08.2023

Meine Reportage über die Republik Moldau, Transnistrien und die Südwestukraine aus dem Jahr 2017, Erstveröffentlichung in: Merkur Zeitschrift, November 2017, 71. Jahrgang, Heft 822

Die jüdische Geschichte Bessarabiens

Es ist, als läge der Friedhof selbst auf einem Friedhof. Als sei die Natur im Begriff, ihn zu begraben. Pflanzen aller Art wuchern zwischen den Gräbern, werden hier und da halbherzig zurückgedrängt, kämpfen sich stoisch zurück. Sonnenlicht bricht durch Baumwipfel und bedeckt die Toten mit einer Decke matt pulsierender Flecken. An diesem heißen Julitag des Jahres 2017 dämmert der jüdische Friedhof Chişinăus vor sich hin wie immer. Bis auf zwei ältere Arbeiter, die mit nackten, braungebrannten Oberkörpern träge zwischen den Grabsteinen hantieren, ist der Ort still und menschenleer. Nur die bunten Farben einiger frischer Blumen und ein paar neue Gräber im Norden geben Hinweise darauf, dass er noch in Betrieb ist. Der geradezu klischeehaft verwunschene Ort zeugt von einer wenig bekannten Geschichte der Multiethnizität, Migration und Verfolgung an den Rändern Europas.

Irina Shikovas Finger huschen über das Display des Smartphones. "Fotos meines Babys und von Friedhöfen", lacht sie, "so sieht gerade mein Leben aus. Ich bin süchtig nach Friedhöfen!" Die Mitarbeiterin an der Moldauischen Akademie der Wissenschaften in Chişinău forscht zur Geschichte der Juden in der Republik Moldau und ihrer Vorläufer. Chişinău ist die Hauptstadt eines der jüngsten europäischen Nationalstaaten. 1991 ging die Republik aus der Konkursmasse des Sowjetimperiums hervor und versucht seitdem, in anhaltend labilem Zustand ihre Eigenständigkeit zu behaupten. Zuvor war die Gegend mal ungarisch, mal osmanisch, mal russisch, mal rumänisch, mal sowjetrussisch. In Moldau verschwimmen die Bestimmungen. De jure handelt es sich um einen autonomen Staat. Aber de facto? Eine Region? Eine Zwischenlösung? Eine Pufferzone?

Shikova empfängt im bewachten, von hohen Mauern umgebenen Areal des 2005 eröffneten jüdischen Kulturzentrums KEDEM im Zentrum Chişinăus. Finanziert wird es von amerikanischen Spendern. Im Untergeschoss hat Shikova ein kleines improvisiertes Museum eingerichtet. Die quirlige Wissenschaftlerin stammt aus einer jüdischen Familie, die hier seit Generationen ansässig ist. Der wehrhaft anmutende Gebäudekomplex lässt ihre Bemerkung, die Juden fühlten sich heute sicher in der Stadt, in einem fragwürdigen Licht erscheinen. Doch Shikova winkt ab: "Wir verspüren keinen Hass oder Druck. Hinter Antisemitismus steckt meist ein allgemeiner Mangel an Kultur und Wissen. Und es kursieren nicht nur negative Stereotype. Man sagt auch über uns, wir seien alle so gebildet, wir würden immer zusammenhalten."

Ein wirkliches Problem bilde das Verhältnis von Staatspolitik und Sprache. Die meisten Juden in Moldau sprächen Russisch. Doch die offizielle Landessprache ist Rumänisch. Teile der Bevölkerung fühlen sich der russischen Kultur verbunden. Andere orientieren sich nach Rumänien, dem Westen, der Europäischen Union. Es gibt auch Nationalisten, die den Staat paradoxerweise in Rumänien integrieren, die moldauische Nation also auflösen wollen. Expats im eigenen Land, wenn man so will. Das sorge für Spannungen. Identitätspolitik wird in Sprachpolitik übersetzt – ein komfortabler Weg, um von handfesten Problemen abzulenken und Alltagszwiste zu existentiellen Konflikten aufzubauschen.

Auf Fotos in den Wandnischen des Improvisoriums sind viele jüdische Handwerker und Kleinhändler aus Chişinău um 1900 zu sehen. Sie strafen das Klischee des jüdischen Großkapitalisten Lügen. Der Holocaust bildet zwar den Fluchtpunkt der Präsentation, doch Shikova möchte zeigen, "dass es eine lange Tradition jüdischer Kultur in Bessarabien gibt". Bessarabien, das ist die historische Landschaft zwischen den Flüssen Pruth im Westen und Dnister im Osten, dem Schwarzen Meer im Süden und den Karpatenausläufern im Norden. Der Name geht auf die neuzeitliche Dynastie der Bassarab zurück. Mit Arabien hat er nichts zu tun. Heute entspricht Bessarabien etwa dem Gebiet Moldaus und eines Teils der Südukraine. Seit dem 14. Jahrhundert ist eine dauerhafte Präsenz von Juden in Bessarabien nachweisbar. Sie kamen aus Spanien, Polen, Russland. Auf den Grabsteinen des jüdischen Friedhofs stehen auch viele deutsche Namen.

Um 1900 war Chişinău eine multiethnische Provinzmetropole. Juden bildeten die größte Bevölkerungsgruppe und teilten sich die Stadt unter anderem mit Russen, Rumänen, Deutschen, Bulgaren, Armeniern. Im Jahr 1903 erschütterte ein Pogrom Chişinău und schlug Wellen bis in die Vereinigten Staaten. Unbeeindruckt von einer Intervention Theodore Roosevelts schürten antisemitische Zirkel den Hass weiter. 1941 ließ das autoritäre rumänische Regime Ion Antonescus unter chaotischen Bedingungen ein Ghetto in Chişinău errichten. Diejenigen Juden, die nicht fliehen konnten, aufgrund der miserablen Lebensbedingungen im Ghetto starben oder unter Vorwänden exekutiert wurden, schickte man auf Todesmärsche gen Osten. In seiner akribisch recherchierten Studie The Kishinev Ghetto argumentiert der US-amerikanische Historiker Paul A. Shapiro, entgegen offizieller rumänischer Geschichtsschreibung habe Antonescu eine eindeutige Politik betrieben: "Sie war darauf ausgerichtet, die Juden aus Chişinău und dem übrigen Bessarabien restlos zu vertilgen."[1] Am 31. Juli 1943 verkündete die Chişinăuer Zeitung Basarabia hocherfreut "Bessarabien judenfrei".

"Eine Art Formlosigkeit": Moldau und Chişinău

Obwohl das kulturelle Leben der Moldauer Juden in den letzten Jahren an Sichtbarkeit gewonnen hat, sind sie eine schwindende Minderheit in einem Land, das seinerseits in Auflösung begriffen scheint. Das in Sowjetzeiten erbaute Hotel National am Südende des zentralen Boulevards Ștefan cel Mare in Chişinău steht leer und verrottet. Auf manchen Korridoren des Hotel Cosmos, ebenfalls ein Wahrzeichen der sowjetischen Ära, haben sich Zahnärzte und Kleinbetriebe eingemietet. Alte Frauen verhökern die Reste ihrer Haushalte auf dem Flohmarkt am Bahnhof, wo selten nur ein Zug eintrifft. Die Infrastruktur Moldaus bröckelt und bröselt. Ein Viertel der Bevölkerung hat das Land bereits verlassen. Es ist abhängig geworden von Geldüberweisungen seiner im Ausland lebenden Bürger. 2015 verschwand ein Achtel des gesamten Staatshaushalts.

Bis heute ist unklar, wer die treibende Kraft hinter dem vielleicht größten Bankraub der Geschichte ist: eine Milliarde Dollar auf einen Schlag. Um die vierzig Namen zirkulieren, Verfahren sind am Laufen, Personen wurden in Untersuchungshaft genommen, unter Hausarrest gestellt, der frühere Premierminister Vlad Filat zu einer Haftstrafe verurteilt. In der Bevölkerung munkelt man, der Oligarch Vladimir Plahotniuc stecke dahinter. Der schwerreiche Unternehmer kontrolliert die Demokratische Partei Moldawiens und kandidierte einmal selbst für das Amt des Ministerpräsidenten. Doch sicher, geschweige denn bewiesen, ist nichts.

Bessarabien, Moldau und Chişinău spielten im geopolitischen Game of Thrones nie ganz oben mit. Immer schon handelte es sich um eine Zone des Diffusen, Hybriden, Umstrittenen. Doch gerade weil die Globalisierung den Gegensatz von Zentrum und Peripherie hinfällig macht und weil die klaren Fronten des "nuklearen Patts" (Dan Diner) verschwimmen, haben solche Zonen paradigmatischen Charakter. Sie sind Laboratorien für ein Dasein unter den Vorzeichen des Fluiden und Prekären. Fokussiert die Globalisierungsforschung aktuell auf Großgebilde wie Asien oder den "globalen Süden"; ist sie in der Verschränkung des Fernsten mit dem Nächsten exotistischer Tendenzen nicht unverdächtig, so lohnt ein Blick auf jene Gegenden in Osteuropa, die gerade so weit weg liegen, dass der exotisierende Blick über sie hinweggeht; aber so nahe, dass der assimilierende Blick sie auch nicht trifft.

Osteuropa hat nie so recht für jene Projektionen des Westens getaugt, die das Differente zum "ganz Anderen" erklärten. Doch es wurde auch nicht zum "Eigenen" gezählt. Der polnische Kunsthistoriker Piotr Piotrowski sagte 2015 treffend, Osteuropa sei nicht das "ganz Andere", sondern "das nahe Andere" des Westens. In seinen Memoiren von 1958 attestierte der polnische Literaturnobelpreisträger Czesław Miłosz dem modernen osteuropäischen Raum einen amorphen, vieldeutigen Charakter.[2] Er könne sich selbst als einen "typischen Osteuropäer betrachten", dessen "spezifisches Anderssein" man auf eine "Art Formlosigkeit zurückführen" könne. Sein Beispiel mache "deutlich, welch großer Mühe es bedarf, einander widersprechende Traditionen, Namen und ein Übermaß an Eindrücken zu verarbeiten, das heißt, in eine gewisse Ordnung zu gliedern“. Was Miłosz dem Osteuropa des frühen 20. Jahrhunderts zuschreibt, schreibt man derzeit fast wortgleich der Globalisierung zu. Die osteuropäische Erfahrung ist eine Prolepse der Globalisierung in einem Mikrokosmos. Osteuropa ist heute überall.

Aspekte wie Unübersichtlichkeit, Chaos, Ambivalenz, De- und Reterritorialisierung, Diaspora, Hybridisierung, freiwillige und erzwungene Migration, die in der avancierten Globalisierungsforschung tonangebend sind, sind in Bessarabien wie unter einem Mikroskop erfahrbar. Auch die mit der Globalisierung verbundene Transkulturalität, die die Illusion des "ganz Anderen" hinfällig macht, wird hier anschaulich. Durch die Globalisierung erführen sich alle als "kulturelle Mischlinge", so Wolfgang Welsch.[3] "Kultureller Mischling" – ein Begriff, der sich auf die Geschichte und Gegenwart Bessarabiens und Moldaus übertragen lässt.

Die Osmanen, die Bessarabien kleingehalten hatten, mussten Anfang des 19. Jahrhunderts den Russen weichen. Zar Alexander I. gründete das "Gouvernement Bessarabien" und gab Chişinăus Innenstadt ein imperiales Gepräge. Doch erst nach dem Zweiten Weltkrieg kam mit den Sowjets Dynamik auf. Chişinău sollte zu einem östlichen Silicon Valley werden. Die Bevölkerung wuchs exponentiell, Moldau avancierte zu einer der wohlhabenderen Sowjetrepubliken. Noch heute zeugen die Reste einer Computerfabrik und herausragende sozialistisch-modernistische Architekturexperimente wie der Romashka-Turm (erbaut von 1978 bis 1984) von dieser euphorischen Phase. Viele Juden, die nach dem Zweiten Weltkrieg zurückgekehrt waren, wanderten indes nach Israel oder Amerika aus. Nach der Unabhängigkeit 1991 taten sie es in Massen. Sie trafen die richtige Entscheidung. Der künstliche Boom endete so schnell, wie ihn die Parteizentrale herbeiverordnet hatte. Seitdem: Instabilität. Unsicherheit. Identitätssuche. Die "Risikogesellschaft" (Ulrich Beck) findet man also nicht nur in den globalen Hubs des Neoliberalismus. Sondern auch dort, wo er noch gar nicht wirklich Fuß gefasst hat.

In der jüdischen Bibliothek gegenüber vom KEDEM-Zentrum kann sich Olga Sivac ein Lachen nicht verkneifen. Ja, genau so sähen ordnungsliebende und sicherheitsversessene Westler die Republik Moldau. Die Endfünfzigerin mit der markanten Kurzhaarfrisur leitet die Fremdsprachenabteilung und liebt die diffusen Verhältnisse Moldaus: "Das Interessanteste an unserem Land ist seine Diversität und sein multinationales Erbe. Ich bin mir absolut sicher, dass Moldau zur europäischen Kultur gehört – genauso wie zur russischen." Eine Zeitlang lebte Sivac in den Vereinigten Staaten. Kopfschüttelnd erinnert sie sich: "Dort plante man auf fünf Jahre im voraus. Wie langweilig! In Moldau geht man abends zu Bett und wacht am nächsten Morgen in einem anderen Staat auf. An einem Tag zahlt man mit der einen Währung, am nächsten Tag mit einer neuen." Werden das Flüchtige, Instabile und Hybride in westlichen Kulturzirkeln gern wortreich als Segnungen beschworen, so sind sie hier lebendiger, fordernder Alltag.

Die Stimme am anderen Ende der Telefonleitung ist mit Sivacs Wertung nicht so recht einverstanden. "Moldau hat keinerlei Perspektiven als unabhängiger Staat", poltert der Autor Wladimir Lortschenkow. "Das Land ist ein kleiner Garten, der das kleine Dorf Chişinău umgibt. Als Kind träumte ich von Moldau, als sei es das Zuhause von Santa Claus oder Eldorado. Dann kehrte ich zurück und erkannte das wahre Moldau. Es ist ein Nirgendsort und ein Niemalsort, ein zutiefst provinzielles Loch, wie Macondo." Lortschenkow hat sowohl die euphorische wie auch die desolate Phase Moldaus erlebt. Er wurde 1979 im sowjetischen Chişinău geboren und hat mit Milch und Honig (2011) einen Roman über die heutige Republik verfasst. Es handelt sich um eine schwarzhumorige Groteske, in der verzweifelte Priester und Bauern Kreuzzüge organisieren oder fliegende Traktoren basteln, um irgendwie dem Elend zu entkommen. Macht Not also erfinderisch? Lortschenkow verneint entschieden: "Klar sind arme Menschen flexibler. Aber sie brauchen die Flexibilität vor allem, um an Essen zu kommen. Ich empfinde Verzweiflung nicht gerade als Quelle der Inspiration." Mittlerweile lebt er in Kanada. Und erweckt nicht den Eindruck, zurückkehren zu wollen.

Wie um Lortschenkows Einschätzung zu bestätigen, zeichnen westliche Diplomaten in Chişinău ein pessimistisches Bild des Landes. Einer, der nicht namentlich genannt werden will, sagt bei einem Treffen im Botschaftsviertel: "Moldau ist ein zerrissenes Land, und das war es eigentlich immer im 20. Jahrhundert." Das derzeitige Parlament proeuropäisch, der amtierende Präsident prorussisch, die eigentliche Macht, wie in vielen postkommunistischen Staaten, bei Oligarchen. Der Staat sei paralysiert und uninspiriert, lautet das harte Urteil des Beamten: "Das gilt sogar für die Geschichte. Aus dieser Region kamen noch nie Kreativität oder Innovation. Man war immer jemandes Untertan, immer die Tauschmünze in einem Spiel. Bis heute können sich wenige hier vorstellen, nicht mit größeren Mächten affiliiert zu sein. Es mangelt am Willen, etwas eigenes zu tun." In Moldau seien Entscheidungsfindungsprozesse überdies emotionalisiert und unterlägen der Logik von Clans: "Intellektuelles Urteil und emotionale Zugehörigkeit finden nicht zueinander." Auch zwischen den politischen Eliten und der Zivilgesellschaft, den Gebildeten und den Ungebildeten, den Reichen und den Armen, den Prowestlichen und den Prorussischen täten sich Klüfte auf. Lokale NGOs wiederum seien von Geld aus dem Ausland abhängig, was das Misstrauen gegen sie verstärke. Doch welche Alternative hätten sie? Ein Teufelskreis.

Zivilgesellschaftliche Graswurzelarbeit im Vakuum

Vladimir Us stellt sein Fahrrad in einem Hinterhof des Stadtteils Botanica ab. Es ist ein Fahrrad, wie man es hier selten sieht. Ohnehin fährt in Chişinău kaum jemand Rad. Der 1980 geborene Künstler und Kulturmanager hingegen verfügt über ein hochmodernes Citybike. Er trägt spezielle Handschuhe und einen Helm. Auch das eine Seltenheit. Us hat in Chişinău, Belgrad und Grenoble studiert. Zusammen mit dem Urbanisten und Politologen Vitalie Sprinceana ist er die treibende Kraft der Chişinăuer NGO Oberliht. Begonnen haben die Mitglieder im Jahr 2000 als Künstler. Doch sie stellten fest, dass Moldau nicht die richtigen Rahmenbedingungen bot, um Kunst nach ihren Vorstellungen zu machen. Also beschlossen sie, diese Bedingungen selbst zu schaffen. Aus Künstlern wurden Stadtaktivisten, die man der parteilosen, pragmatischen Linken zurechnen könnte. Abhängigkeit von ausländischen Geldern? Pessimismus? Us zuckt mit den Schultern. Zweitrangig. Es geht darum, aktiv zu werden, etwas zu verändern.

Oberliht hat sich der Förderung der Zivilgesellschaft, dem internationalen Austausch sowie der Wiederaneignung des kommerzialisierten öffentlichen Raums durch Kunst verschrieben. Mithilfe von Freiwilligen versucht die Gruppe, vernachlässigte Plätze zu beleben und die Anwohner zu involvieren. Sie protestiert gegen semilegale oder illegale private Bauvorhaben auf öffentlichem Grund. Im Verbund mit internationalen Partnern veranstaltet sie Workshops, Ausstellungen oder Summer Schools. In ihrer Zentrale, die sich im Keller eines Wohnhauses in Botanica befindet, hat sie eine Bibliothek eingerichtet. Neurechte würden die Bestände wohl als Paradebeispiel linker Diskurshegemonie geißeln. Doch in Moldau sind Michel Foucault oder Chantal Mouffe keine Subversionsfolklore. Ihr Denken bietet handfeste Anstöße für die Schaffung jener zivilgesellschaftlichen Strukturen, an denen es in vielen postkommunistischen Ländern fehlt.

Us führt zu einem Holzgerüst im Hinterhof einer Chruschtschowka. So nennt man die unter Nikita Chruschtschow errichteten, meist fünfstöckigen Plattenbauten. Das Gerüst hat genau die Abmessungen einer Chruschtschowka-Wohnung. Doch die Wände fehlen. Das Skelett steht für einen Geist der Offenheit und der Transparenz. Gerade malen und basteln Kinder gemeinsam mit einem Aktivisten in der luftigen Struktur, ein älterer Anwohner bedient den Grill. Es handelt sich um eines der Nachbarschaftsprogramme, die Oberliht durchführt.

Am Rand des Stadtteils Buiucani belebt die NGO ein Open-Air-Kino wieder – die Konstruktion stammt noch aus Sowjetzeiten. Die Kulturschaffenden sind bestrebt, Leute zusammenzubringen, den Dialog zu fördern, der Atomisierung der Gesellschaft entgegenzuwirken. Denn als der Kommunismus verpuffte, hinterließ er ein Vakuum. Konsum und Volksfrömmigkeit traten an Stelle linker Ideologie. Nun strahlen vergoldete Kirchenkuppeln und Shoppingmalls am hellsten. Auf einer alternativen Stadtführung, die auch einen "Walk of Corruption" beinhaltet, sagt Oberliht-Aktivist Sprinceana: "In Moldau mangelt es an Möglichkeiten, sich am gesellschaftlichen und politischen Prozess zu beteiligen. Niemand traut dem Staat. Es gibt keine wirkliche keine Gemeinschaft. Wer sind wir Moldauer? Was bedeutet 'moldauisch'? Das sind Fragen und Probleme, mit denen wir uns beschäftigen."

Spricht man mit jungen Erwachsenen in Chişinău, so wollen viele am liebsten weg. Den Moloch aus Armut, Korruption, Perspektivlosigkeit hinter sich lassen. Cătălina Bucos etwa, die soeben das Kunstgymnasium abgeschlossen hat, lernt Deutsch: "Ich möchte nach Berlin gehen, etwas mit Kulturmanagement machen." Obwohl sie sich in der Kunstszene Chişinăus engagiert, erwartet sie keine Impulse aus dem Inneren des Landes. Vladimir Andronachi hingegen, der in der Hauptstadt als Übersetzer und Fremdenführer arbeitet, sieht das anders: Moldau solle sich ein Vorbild an der Schweiz nehmen. Das Land müsse sich um sich selbst kümmern, statt immer auf andere zu schauen und Lösungen von außen zu erwarten.[4]

Die Schweiz also. Von ihr träumt auch ein Mann weit draußen in der ukrainischen Steppe.

Palarievs Traum von einer Schweiz der Ukraine

Hoch ragt das Monument über Frumushika-Nova in den Himmel. Ein grauer, monolithischer Block in einer weiten Graslandschaft im südwestlichen Teil der Ukraine, Bezirk Odessa. Auch er gehört zur historischen Landschaft Bessarabiens. "Kommen Sie", ruft Alexander Palariev und eilt in seiner rudernden Gangart voraus. "Schauen Sie! Die höchste Schäferstatue der Welt! Eintausend Tonnen Granit! Ein Mitarbeiter des Guinnessbuch der Rekorde ist schon auf dem Weg!" Bald soll die größte Schäferhundskulptur der Welt folgen. Ebenfalls aus Granit.

Aus Palariev spricht Stolz. Er ist ein mächtiger Mann in dieser Gegend, ein Oligarch, wenn auch keiner der großen. Im Kommunismus war er beim Militär, in der Umbruchszeit gelangte er zu Reichtum. Woher Letzterer genau stammt – weiß hier niemand so genau. Tankstellen gehören ihm. Und Land, viel Land. "Das Land meines Vaters", strahlt der kräftig gebaute Ukrainer. Hier in Frumushika sei dieser 1933 geboren. Das Dorf wurde unter den Sowjets aufgelöst. Seit 2006 baut Palariev es zu Ehren seiner Ahnen als Ferienresort und Agrarbetrieb wieder auf.

Die Hauptattraktion seiner wie ein Ufo in der Steppe gelandeten Anlage ist ein Skulpturenpark mit Helden der Sowjetunion. Lenin im Kreis von Lenins. Trotzki. Breschnew. Überall im Land lässt die prowestliche Regierung diese Skulpturen schleifen. Palariev kauft sie günstig auf und präsentiert sie unter freiem Himmel. Weitestgehend kommentarlos. Eine der raren Plaketten klebt unter Stalins Büste. Er firmiert nicht etwa als Diktator. Sondern als "politischer Führer".

Auf seinem Grund hält Palariev achttausend Schafe, deren Wolle für Luxusmarken verwendet wird. Überall blühen Blumen. Es gibt ein Restaurant, vorzügliche rustikale Küche. Einen Swimmingpool. Ein Hotel und Gästehäuser. Einen zweiten Skulpturenpark, der von griechischen und bessarabischen Mythen handelt. Einen Minigolfplatz. Einen alten Panzer. Ein paar ausgemusterte Flugzeuge. Ein Lama. Ponys. Angelteiche. Eine christlich-orthodoxe Kapelle. Mehrere Museen, darunter eines zum Thema Käse und eines zum Thema Honig. Und dann noch eine Kunstgalerie.

"Folgen Sie mir!" Mit bedeutungsvoller Geste öffnet Palariev die Türen zu einem Bankettsaal. Entlang der Wände sind farbenprächtige Gemälde aufgereiht. Der Schwerpunkt liegt auf Realismus, Genre- und Landschaftsmalerei: "Alle meine Mitarbeiter werden gemalt. Sehen Sie diesen Schweißer? Er ist ein Trinker. Aber ich habe ihn vorteilhaft portraitieren lassen. Immer wenn er betrunken ist, zeigen wir ihm das Bild – so könntest du aussehen, wenn du nicht tränkest!" Wie einst im Salon de Paris zieren die wichtigen Werke die oberen Ränge. Es handelt sich vornehmlich um Darstellungen von Palarievs Schafherden: "Diese Arbeiten sind unverkäuflich. Sie werden nur innerhalb der Familie vererbt." Gehüllt in eine Cannabiswolke schlurft ein junger chinesischer Künstler herbei, der einige der Werke ausgeführt hat. Palariev lobt ein Residency-Programm aus, greift aber durchaus auch selbst in den Werkprozess ein, wenn ihm die Richtung nicht passt.

Es ist schon spät, doch Palariev ist unermüdlich. "Kommen Sie, kommen Sie!" Er stürmt in die Nacht und hinunter in seinen Weinkeller. Von irgendwoher hat sich eine Schar junger Ukrainer eingefunden. Palariev schenkt ein. Jeder Gast muss die Jahrgänge kommentieren. Es sind Weine, in die die Kraft der Ahnen, die Sonne der Steppe und der unbändige Wille Palarievs eingeflossen sind. Je später die Nacht, desto hymnischer die Trinksprüche. Ein blondierter Hochseekapitän in Flip-Flops taucht auf und zeigt Bilder seines Frachtschiffs auf dem Smartphone. Palariev greift ebenfalls zum Smartphone und liest ein selbstverfasstes Gedicht über die Schönheit Frumushikas und die Wonnen des Weins vom Display ab. Applaus. Nachschenken. Alle ausgetrunken? Wirklich? Zum Beweis das Glas umdrehen! Nachschenken. "Ruhe! Hier spricht nur einer!" Palarievs Augen funkeln: "Die Ukraine hat Probleme. Große Probleme. Aber wir bauen hier etwas auf. Wir sind stark. Frumushika-Nova soll zu einer Schweiz der Ukraine werden!" Weit nach Mitternacht wankt die Trinkgesellschaft hinaus ins kühle Dunkel, berauscht von der Zukunft der Ukraine und Palarievs Poesie. Auf dem Weg zum Hotel geht es vorbei an Nachbauten von Häusern jener Ethnien und Nationalitäten, die Bessarabien geprägt haben: Moldauer, Juden, Ukrainer, Bulgaren, Gagausen, Deutsche. Die Geschichte Letzterer ist in der Gegend noch stark präsent.

Heimatland und Heim ins Reich: Die Bessarabiendeutschen

Anfang des 19. Jahrhunderts holte Zar Alexander I. deutsche Siedler in die Region. Heute würde man vielleicht sagen: zur Gentrifizierung. Sie machten das Land urbar, brachten die Wirtschaft in Schwung, gründeten Vereine, Schulen, Unternehmen. Im Gegenzug wurden sie unter anderem zehn Jahre lang von der Steuer befreit, erhielten Land geschenkt, durften ihre Religion frei ausüben. Im Zuge des Hitler-Stalin-Paktes wurden die Deutschstämmigen 1940/41 "heim ins Reich" geholt. Fast alle folgten dem Aufruf. Vielleicht ahnten sie, was bevorstand.

Die Siedlungen der Bessarabiendeutschen erinnern an ein Kapitel in der Geschichte Deutschlands, das im tagespolitischen Diskurs kaum eine Rolle spielt: Heute ist Deutschland ein Einwanderungsland. Doch gestern war es ein Auswanderungsland. In Bessarabien bildeten die Deutschen das, was manche den Türken im Deutschland der Gegenwart vorwerfen: eine Parallelgesellschaft. Die Koexistenz verlief weitestgehend friedlich. Kulturkampf war nicht das Anliegen Alexanders I.. Erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts sollten alle Minderheiten, ähnlich wie man die Polen unter Bismarck "germanifizierte", "russifiziert" werden.

Unweit der Grenze zu Moldau zeugt eine Webcam vor einem unscheinbaren Haus im Dorf Serpnewe (früher: Leipzig) von der Bedeutung der Region für die letzten Bessarabiendeutschen. Der 1935 in der ehemaligen deutschen Siedlung geborene Unternehmer Nathanael Riess hat sie installiert, um von Norddeutschland aus sein Geburtshaus betrachten zu können. Die Bewohner erklärten sich einverstanden – Riess unterstützt die Gegend mit Spenden. Am Ortseingang ließ er ein großes Plakat aufstellen: "Wir wollen unser Haimatland [sic!] wieder aufbauen!"

Eine Leipziger Familie war dem Ruf "Heim ins Reich" in den vierziger Jahren nicht gefolgt. Ihr Sohn wohnt immer noch hier. Auf seinem Grundstück in Serpnewe laden Woldemar Rehmann und seine Frau Lily zu Streuselkuchen und Kaffee ein. Woldemar wurde 1949 in Serpnewe geboren. Seine großen, kräftigen Hände zeugen von harter Arbeit. Als Schweißer arbeitete der deutschstämmige ukrainische Staatsbürger unter anderem in Odessa und im moldauischen Basarabeasca. Heute lebt er von einer mickrigen Rente, umgerechnet etwa 50 Euro. In verwaschenem Deutsch erzählt er seine Geschichte. Sein Vater sei bei der Waffen-SS gewesen. Im Zweiten Weltkrieg hätten ihn die Russen festgenommen. 1947 sei er freigekommen. Doch 1950 habe "jemand von den Juden" ihn wegen etwas angeschwärzt. Mitsamt Frau und Kind, also ihm, Woldemar, sei der Vater nach Kasachstan verschickt worden, wo er 1951 bei einem Zugunfall starb. Nach Stalins Tod durfte Woldemar mit seiner Mutter zurück nach Serpnewe. Seitdem lebt er in der Gegend, abgesehen von einem kurzen Versuch, in den neunziger Jahren in Deutschland Fuß zu fassen. Seine Frau wollte zurück. Also gingen sie zurück.

Die jungen Leute hingegen, sagt Woldemar, zögen alle weg. Seit der Perestroika gäbe es kaum Arbeit in den hiesigen Dörfern: "Die sowjetische Zeit, das war schon auch ein gutes Leben, es gab Arbeit bis zum Hals! Aber andererseits: Wenn man mal einen Monat nicht arbeitete, kam die Polizei. 'Von was lebst Du? Klaust Du?' Man musste arbeiten, wurde dazu gezwungen, dort, wo sie es sagten." Die, die konnten, hätten damals an sich gerafft, was sie raffen konnten. Dem Rest sei wenig geblieben – im Dorf halte man Vieh, züchte man Hasen, verdinge man sich als Hilfsarbeiter in nahegelegenen Weingärten.

Im Kommunismus war es auch kein Problem, zum Einkaufen oder Arbeiten nach Moldau zu fahren. Heute ist der kleine Grenzverkehr ohne Reisepass nur innerhalb eines Streifens von 20 Kilometern jenseits der Grenze möglich. Wer weiter möchte, braucht einen Pass. Überhaupt, die Pässe. In diesen Regionen wuchern sie wie die Herkünfte, die Identitäten, die Zugehörigkeiten. Die Bürger der autonomen Republik Transnistrien etwa haben auch moldauische und russische Pässe, weil ihr Staat nicht anerkannt ist. Manche Moldauer bewahren ihren alten Pass aus Sowjetzeiten auf, den sie offiziell als verloren gemeldet haben. Man weiß ja nie.

Genpool-Pluralismus in der Dorfschule

In einem nahegelegenen Dorf laden die Direktorin und die Lehrerinnen der lokalen Schule zum Mittagessen. Die ukrainische Flagge flattert am Eingang des von Obstbäumen und Wiesen umsäumten Gebäudes. Es ist der Jahrestag der Bestattung Helmut Kohls. Ein großer Politiker sei er gewesen, sagt die Direktorin, die nicht namentlich genannt werden will. Vor allem für die Einigung Europas, fügt der Gast aus dem Westen hinzu. Vor allem fürs Vaterland, für Deutschland, erwidert sie. Das Vaterländische und die Heimat haben eine starke Präsenz in der Schule. Begriffe wie "Globalisierung" und "Transkulturaltität", die im Gespräch fallen, werden skeptisch aufgenommen. Doch was ist diese Heimat eigentlich?

Ein Gemälde im Flur zeigt mittig das Sowjetische Ehrenmal aus dem Treptower Park in Berlin. Links von der Statue: Krieg. Soldaten. Geschütze. Leid. Rechts von ihr: Frieden. Ein Rehkitz. Glückliche Kinder. An anderen Wänden hängen Bilder mit wiederkehrenden Motiven der ukrainischen Nationalfarben, Kornfelder, Ähren, Blumen. Beim Mittagessen wird klar, wie vertrackt die Lage ist. Alle Lehrerinnen sind Patriotinnen. Doch die Regierung ist ihnen suspekt. "Bonbons? Greifen Sie zu! Keine Sorge, die sind nicht aus der Fabrik Poroschenkos." Während der gesamten Begegnung fällt kein negativer Satz über Russland und die russische Regierung. Die Kriege in Georgien, Abchasien, auf der Krim – kein Thema. "Man ist hier eher prorussisch", raunt Dolmetscher Andronachi zwischen zwei Happen der exzellenten Mahlzeit: in Butter gebratene Zucchini, Hähnchenschlegel, Schinken, Paprika aus eigenem Anbau, Schafskäse aus eigener Herstellung.

Das multiethnische Sowjetimperium scheint tiefe Spuren im Denken der Frauen hinterlassen zu haben. Auf den Ausschank selbstgekelterten Weins folgt eine Einführung in den Genpool der Region. "Schauen Sie!" Eine Lehrerin weist auf Fotografien von Schulkindern. "Wie schön und gesund sie sind!" Woran das liege? "Hier paaren sich seit langer Zeit Ukrainer, Bulgaren, Gagausen, Moldauer. Die Vielfalt der Gene hat den Menschentyp hier so stark gemacht." Wie zum Beweis werden die verschiedenen Herkunftsländer und -regionen der Ehemänner aller Versammelten aufgezählt. "Wir haben fruchtbare Böden und fruchtbare Frauen mit vollen Formen. Nicht wie die mageren und kränklichen Models im Westen. Bei uns sagt man: Ein Mann ist kein Hund, er will keine Knochen abnagen."

Es ist ein pluralistischer Biologismus, dem man hier begegnet. Nicht die Reinheit des Genpools, wie Nazirassisten ihn imaginieren, sondern seine Diversität gilt den Lehrerinnen als Garant für Stärke und Gesundheit. Dafür sind Migration und Transgression ethnischer Gruppen unerlässlich. Doch diese Diversität hat Grenzen, die auch unausgesprochen klar werden – es sind die Grenzen der Sowjetunion.

Die Vision des Kommunismus war global, ja universell, auch wenn Stalin ihn zunächst nur in Russland durchsetzen wollte. Das Politbüro versuchte, dem Nationaldenken entgegenzuwirken, indem es die Durchmischung der Bewohner aller Republiken förderte. Der Versuch wirkt nach.

Andererseits äußern die Lehrerinnen auch Sorge um das Abendland als solches. Sein Untergang zeichne sich ab, warnen sie. Die Überalterung spiele anderen Weltgegenden in die Hände. Deshalb täten sie alles, um die Geburtenrate im Dorf hochzuhalten. Die Frage, wie das genau erfolge, bleibt unbeantwortet.

Die Sowjets hatten wenigstens eine Vision ...

In Tarutyne, der nahegelegenen Kreisstadt mit etwa 8000 Einwohnern, sind die Marx- und Lenin-Statuen aus dem Stadtpark verschwunden. Im Sommer 2016 waren sie noch zu sehen gewesen. Zwar richtet sich der Blick der offiziellen Ukraine nach Westen. Doch die Satellitenschüsseln an einem Wohnhaus zeigen alle in die entgegengesetzte Richtung: "Nach Russland", meint Andronachi lapidar. "Geschichtsklitterung", schimpft ein alter Mann im Park. Er sei zwar kein Kommunist. Aber die Statuen gehörten doch zur Geschichte! Kopfschüttelnd geht er in sein Haus zurück, in dessen Giebel das Baujahr 1939 verzeichnet ist.

In einem Schaschlikimbiss wartet der Journalist Viktor Gangan. Der stämmige Mann arbeitet für die regionale Zeitung Banner der Arbeit und überreicht zur Begrüßung ein Buch eines Lokalhistorikers. Die Geschichte Tarutynes aus subjektiver Sicht – doch was sind die Perspektiven für die einst blühende Stadt, wo um 1900 zahlreiche Fabriken, Kleinbetriebe und ein florierender Wochenmarkt für relativen Wohlstand sorgten? Wo auch Juden einen großen Teil der Bevölkerung ausmachten? Welche politischen, wirtschaftlichen Visionen gibt es?

Gangan sagt wenig Konkretes. Es sähe nicht gut aus. Den Krimkonflikt spüre man auch hier. Es sei de facto ein Bürgerkrieg, in dem Russland mitmische und der das Land spalte. Auch die Söhne und Töchter Bessarabiens verlören ihr Leben darin. Politiker auf beiden Seiten verdienten daran, durch Waffenhandel oder durch Geschäfte mit sensiblen Informationen, behauptet er. Was die Wirtschaft im Kreis Tarutyne betreffe, so sei die arbeitende Bevölkerung zur Minderheit geworden: "Auf eine arbeitende Person kommen zwei Rentner und eineinhalb Arbeitslose. Arbeiter sind eine aussterbende Spezies." Wenn man die sowjetische Ära mit der jetzigen Zeit vergleiche, komme man zu dem Schluss, dass es damals besser war. Die Sowjetunion hätte eine Vision gehabt. Die gäbe es nun nicht mehr: "Man verkauft uns Wohlstand als Idee. Doch das ist keine Idee! Uns wird nicht erklärt, was Europa wirklich bedeutet. Was ist mit der sozialen Verantwortung der Reichen? Das müsste im Vordergrund stehen." Nur leben und arbeiten genüge nicht. Früher seien die Sowjets ins Weltall geflogen. Und heute? Unlängst hat man in Tarutyne den Jahrmarkt, den die Deutschen hier bis 1940 organisiert hatten, wiederbelebt. Mit seinen Nachbauten von Höfen der Gagausen, Bulgaren und Moldauer erinnert er an die Völkerschauen der Weltausstellungen um 1900. Soll das etwa ein Modell für die Zivilgesellschaft sein? Gangan verneint: "Unsere Zivilgesellschaft ist im embryonalen Zustand. Und zugleich radikalisiert."

Der eingefrorene Konflikt: Transnistrien

In der autonomen Republik Transnistrien, die sich 1992 mithilfe Russlands in einem kurzen, blutigen Konflikt von Moldau abgespalten hat, wird deutlich, wie Bürgerkriege einfrieren können. Transnistrien zieht sich als schmaler Streifen östlich des Dnisters zwischen Moldau und der Ukraine entlang. Etwa eine halbe Million Menschen leben hier. Der De-facto-Staat hat eine eigene Regierung, eine eigene Währung, ein eigenes Militär – ergänzt durch dauerhaft stationierte russische "Friedenstruppen". Ähnlich wie Abchasien nutzt Russland Transnistrien als Einflusssphäre, um den Westen auf Distanz zu halten. Anerkannt wird das Land nur von der Gemeinschaft nichtanerkannter Staaten. Aber es hält sich hartnäckig.

Vor dem Regierungssitz in der Hauptstadt Tiraspol steht eine monumentale Lenin-Statue, unweit davon zeugt ein Denkmalensemble von der verwickelten Geschichte dieser Gegend: Ein T-34-Panzer der Roten Armee aus dem Zweiten Weltkrieg thront auf einem Sockel direkt vor einer christlich-orthodoxen Kapelle. Dialektischer Materialismus und Religion sind traut vereint. Im benachbarten Park verkauft eine alte Frau selbstgehäkelte Stoffentchen für ein paar Cent. Und wie um die Verwirrung komplett zu machen, trägt der wichtigste, eng mit dem Staat verflochtene Konzern Transnistriens einen amerikanischen Namen: Sheriff.

Alexandra Telpis, die mit der NGO Club 19 das einzige alternative Kulturzentrum Transnistriens betreibt, unterhält gute Kontakte zu Oberliht in Chişinău. Doch östlich des Dnisters zählen andere Prioritäten. Ihre NGO setze sich für ganz grundlegende Dinge wie Menschenrechte und Redefreiheit ein, sagt die junge Aktivistin bei einem Treffen in den Souterrainräumen des Clubs: "Wir sind hier der einzige Ort, an dem das möglich ist." Im Club 19 finden Diskussionen, Ausstellungen und Konzerte statt. Fünf Tage die Woche, der Eintritt ist frei. Es kommen nicht viele. Club 19 steht unter Verdacht. Denn er ist abhängig von Zuwendungen aus dem Ausland, etwa von der umstrittenen US-amerikanischen Stiftung National Endowment for Democracy. Vom transnistrischen Staat erhält Club 19 keine Unterstützung. Ein inoffizieller Bann, so Telpis, verhindere sogar Kooperationen mit der Tiraspoler Universität. Auch konnte eine Ausstellung über LGBT-Menschen aus Transnistrien nicht gezeigt werden. Die Tiraspoler Künstlerin Carolina Dutka musste auf Moldau und die Ukraine ausweichen.

Vor allem die Landbevölkerung hat wohl andere Sorgen. Subsistenzversorgung ist keine Seltenheit. Die wirtschaftliche Situation Transnistriens verschlechtert sich. Im Kloster Noul Neamț ist davon allerdings wenig zu sehen. Der christlich-orthodoxe Prunkbau im Dorf Chițcani, das trotz seiner Lage westlich des Dnisters von Transnistrien kontrolliert wird, wirkt wie eine autonome Zone. Das Gelände ist gepflegt, die Kapellen und Wirtschaftsgebäude sind in bestem Zustand. Alles glänzt wie neu. Hoch und mächtig ragt der Kirchturm in den Abendhimmel über Transnistrien. Im Untergeschoss des Club 19 und im Keller der Oberliht-Zentrale bereiten die Aktivisten indes weitere Graswurzelaktionen vor.


[1] Paul A. Shapiro, The Kishinev Ghetto, 1941-1942. A Documentary History of the Holocaust in Romania's Contested Borderlands. Tuscaloosa: University of Alabama Press2015.

[2] Czesław Miłosz, West und Östliches Gelände. Köln: Kiepenheuer & Witsch 1961.

[3] Wolfgang Welsch, Was ist eigentlich Transkulturalität? In: Lucyna Darowska u.a. (Hrsg.), Hochschule als transkultureller Raum? Bielefeld: transcript 2010 (www2.uni-jena.de/welsch/papers/W_Welsch_Was_ist_Transkulturalität.pdf).

[4] Dank an Vladimir Andronachi für Übersetzungen und Dolmetschen.