Seit 2018 bin ich Kolumnist der Stuttgarter Zeitung. In unregelmäßigen Abständen und gebührlichem zeitlichem Abstand veröffentliche ich die monatlichen Kurzessays auf meinem Blog. Diesmal:
Armes Polen?
Wenn es in deutschen Medien um Polen geht, ist der Anlass ziemlich sicher kein erfreulicher. So auch in den letzten Wochen. Unser Autor fordert bei der Kritik am Land mehr Substanz
(Aus dem Jahr 2021)
Wenn es in deutschen Medien um Polen geht, ist der Anlass ziemlich sicher kein erfreulicher. So auch in den letzten Wochen. Ob Antisemitismus, Abtreibungsgesetz, der EU-Streit um die Justizreform oder die Situation an der Grenze zu Belarus – selbst in einer per se apokalypseverliebten Medienlandschaft fällt die Negativfixierung auf. An der Politik der immer weiter nach rechts driftenden Regierungspartei und ethnochauvinistischen Strömungen in der tief gespaltenen Bevölkerung gibt es genug zu kritisieren. Aber Kritik gewinnt an Substanz, wenn sie historisch fundiert und kulturell informiert ist; wenn sie das ganze Bild zeigt, statt nur Ausschnitte. Zu diesem Bild gehören nicht nur Wirtschaftswunder und Haushaltsdisziplin, sondern auch eine starke, protestfreudige Zivilgesellschaft sowie eine kritische Kunst- und Literaturszene.
Ein Rückfall in die Mär vom fortschrittlichen, liberalen Westen und vom rückständigen, autoritären Osten wäre fatal. Die polnische Geschichte selbst bezeugt das Gegenteil. Schon im Mittelalter stellte das Statut von Kalisch die Juden in Polen unter Schutz. Viele Jahrhunderte lang hatte Polen eine der größten jüdischen Bevölkerungen Europas. Auch während der Religionskriege war Polen ein Hort religiöser Toleranz. In der polnisch-litauischen Union (1569–1795) entstand eine Adelsdemokratie, andernorts wucherte der Absolutismus. Damals führten polnische Adelige ihre Abstammung auf den iranischen Stamm der Sarmaten zurück. Hybridität war Normalität. An diese Multi-Kulti-Tradition wollte Józef Piłsudski, der autoritäre Marschall der Zweiten Polnischen Republik (1918–1939), anknüpfen. Wenn Nationalisten das wahre Polen beschwören, sollte man sie daran erinnern.
Ende des 18. Jahrhunderts teilten Preussen, Russland und Österreich Polen unter sich auf. 123 Jahre lang hatte die einstige europäische Großmacht keine Autonomie. Ein zumindest vordergründig ethnisch und religiös homogener Staat ist Polen erst durch den Naziterror geworden. Direkt danach fiel es in die Hände totalitärer Kommunisten. Ohne die polnische Solidarność-Bewegung wäre das Sowjetsystem wohl nicht so schnell zusammengebrochen. Nach 1989 durchlief die Dritte Polnische Republik eine marktwirtschaftlich-neoliberale Schocktherapie. Heute zeigen sich die Nebenwirkungen – die Regierung gewinnt Wahlen nicht nur mit Sozialgeschenken, sondern auch mit dem Versprechen kultureller Geborgenheit. Rechte wie auch linke Theoretiker argumentieren, Polen weise Merkmale eines postkolonialen Staates auf, darunter die hohe Gewichtung kultureller Identität. Das macht die Probleme der Gegenwart nicht weniger problematisch. Aber es hilft, ihre Ursachen zu verstehen.