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Kolumne "Die Kunst und alles andere"

Veröffentlicht am 14.04.2020

Seit 2018 bin ich Kolumnist der Stuttgarter Zeitung. Im Abstand von jeweils einem Jahr veröffentliche ich die monatlichen Kurzessays auf meinem Blog.

Lockere Schrauben

Was der pragmatische Baumarkt mit der grüblerischen Philosophie zu tun hat? Mehr, als wir denken.

 

Baumärkte gelten nicht gerade als intellektuell stimulierende Orte. Eher werden sie als Tempel des Praktischen und Pragmatischen wahrgenommen. Hier findet man brauchbare Schrauben, keine verschraubten Theorien. Dass der typische Baumarkt eingeschossig und ebenerdig angelegt ist, betont seinen mutmaßlich bodenständigen und konservativen Charakter. Für hochfliegende Spekulationen sind Sie hier an der falschen Adresse!, scheint diese Architektur sagen zu wollen. Doch der Schein trügt. In Wahrheit ist der Baumarkt nicht nur ein zutiefst philosophischer Ort, sondern auch ein zutiefst progressiver.

Wer einen Baumarkt durchwandert, erlebt die Welt nicht als eine gegebene, sondern als eine veränderbare. Mit dem Betreten öffnet sich, je nach Geldbeutel, ein Raum schier unendlicher Möglichkeiten – jeder Haken, jede Öse, jede Leiste stimuliert die Imagination: Was könnte man nicht noch alles machen! Slogans von Werkzeugherstellern wie "It's In Your Hands" appellieren an die Eigeninitiative des liberalen Geistes, über Begriffe wie "Oszillierer", "Universalerde" oder "Vibrationsentkopplung" ließe sich trefflich in Philosophieseminaren räsonieren. Wie im Denken ein origineller Einfall zum nächsten führt, setzen die immer vielfältigeren, immer raffinierteren Baumarktangebote eine Kettenreaktion von Ideen in Gang. Die überwältigende Fülle an Artikeln zeugt von der überwältigenden Fülle dessen, was unsere Welt sein könnte. Eine Welt, die gut ist, wie sie ist, wäre der Tod des Baumarkts. Nur aufgrund der Tatsache, dass sie unvollständig und damit ausbaufähig ist, hat er seine Berechtigung. Seitdem manche Baumärkte auch Fitnessgeräte anbieten, darf sich der Mensch ebenfalls zu den ausbaufähigen Dingen zählen.

Wollte man den Baumarkt einer philosophischen Strömung zuordnen, läge der Konstruktivismus nahe. Im Konstruktivismus ist die Wirklichkeit nichts Vorgefertigtes. Vielmehr wird sie von Menschen miterzeugt. Konstruktivisten könnte man als existenzielle Bastler bezeichnen. Ganz in diesem Sinne ziehen Baumärkte Menschen an, die sich mit einer vorgefertigten, standardisierten Ikea-Realität nicht zufriedengeben. Sie wollen ihre eigene Wirklichkeit schaffen – und sei es nur in Form eines bescheidenen Eigenheims. Das konservative Image des Baumarkts trügt also. Mit Odo Marquard gesprochen wird im Baumarkt der Wandel vom "Fatum zum Faktum, vom Schicksal zum Machsal" sinnfällig. Wenig überraschend stammt der einzige philosophische Satz, der vollumfänglich wahr ist und es für alle Zeiten bleiben wird, aus der Baumarkt-Werbung: "Es gibt immer was zu tun."