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Übertreibung in Richtung Reinheit. Die Straight-Edge-Szene als Erbin der Kulturkritik

Veröffentlicht am 26.04.2018

Seit langem bin ich Anhänger des undogmatischen Flügels der Straight-Edge-Szene (Minor Threat, Rollins Band, etc.). Die sektenähnlichen, illiberalen Züge des Hardline-Flügels sind mir zuwider, den kontraintuitiven Grundideen von Straight Edge indes fühlte ich mich schon als Teenager verbunden: der nonkonformistischen Energie von Punk und Hardcore kombiniert mit Askese. Wenn sich Straight Edge in eine Identitätskaserne verwandelt, wird der ursprüngliche Impuls von Minor Threat, aus den Identitätskasernen sowohl der müden Mehrheitsgesellschaft wie auch selbstgerechter Subkulturen auszubrechen, ad absurdum geführt. Ich musste keine persönlichen negativen Erfahrungen mit Drogen machen, um sie abzulehnen – was ich um mich herum sah, ob in Bierzelten oder in Jugendclubs, genügte mir. In diesem Essay, der 2012 im Band "Ideale. Entwürfe einer 'besseren' Welt in Wissenschaft, Kunst und Kultur des 20. Jahrhunderts," hg. von Elke Frietsch & Christina Herkommer, erschienen ist, setze ich mich mit den Zusammenhängen von Straight Edge und Kulturkritik auseinander. Einige besonders verschwurbelte Passagen habe ich behutsam redigiert.

»Purity of the mind and body/To keep the resistance moving on«

(Strife, Arms of the Few)

 

»This is the new revolution/We're building a brand new society«

(Good Clean Fun, On the streets saving the scene from the forces of evil)

 

Einführung

Wer Pop mit spielerischer Ironie, fluiden oder performativen Identitäten und einer affirmativen Einstellung zur Konsumkultur assoziiert, der übersieht eine kleine popkulturelle Insel des Strebens nach Ernsthaftigkeit und Essentialismus, die bis heute vom Mainstream nur in Ansätzen vereinnahmt werden konnte. Während in der Nachkriegszeit – in dieser Reihenfolge – Rock'n'Roll, Punk, Heavy Metal, Rap und unlängst sogar Black Metal[1] mehr oder minder salonfähig wurden, da sie sich als exzentrische, aber weitgehend harmlose und kontrollierbare Gäste auf dem Maskenball des Spektakels zu erkennen gaben, ist die Sub- und Jugendkultur Straight Edge (im Folgenden sXe genannt) mitsamt ihrer Musikszene und ihren Idealen in gewisser Hinsicht ein gallisches Dorf geblieben.

Damit ist nicht gemeint, dass sXe keine kommerziellen Ableger gebildet hätte.[2] Doch eine ähnlich starke Mainstream-Resonanz wie Rock'n'Roll oder Heavy Metal hat sXe nie erfahren. Die Szene hat keinen Elvis Presley, keine Beatles, keinen Lemmy Kilmister, keinen Ozzy Osbourne, keinen P. Diddy und keinen Michael Jackson hervorgebracht. Als Grund hierfür mag nicht nur gelten, dass viele der sXe-Bands schlichtweg zu hart und zu eintönig für ein gemäßigtes, auf Zerstreuung bedachtes Publikum sind. SXe ist überdies mit einem puristischen und asketischen Lebensstil verknüpft. Dieser reicht über einen symbolischen Charakter weit hinaus, ist also mehr als bloße Attitüde und deshalb nur bedingt vereinbar mit kommerziellen Jugendkulturen, die auf einer eher zeichenhaften und spaßbetonten Ebene operieren. Interessant ist sXe mit Blick darauf, welche Ideale hier vertreten werden, wie diese Ideale vertreten werden und wie sich diese Ideale in diachroner Perspektive kontextualisieren lassen. Sxe, so die im Folgenden zu verifizierende Hypothese, lässt sich als eine popkulturelle Variante der Kultur- und Dekadenzkritik definieren. Sie bildet ein Glied in einer langen Kette modernekritischer Bewegungen, in der auch Ideen der Lebensreform aufscheinen.

 

Entstehung der sXe-Szene

Anfang der 1980er Jahre entstand sXe in der Musikszene von Washington D.C. als Reaktion auf das neokonservative Amerika unter dem damaligen Präsidenten Ronald Reagan einerseits und den destruktiven, nihilistischen Habitus des Punk anderseits.[3] Man wagte gleichsam den Spagat zwischen »middle class conservative and progressive influences«[4]. Die Band Minor Threat prägte mit ihrem Song »Straight Edge« (1981) den Namen für einen Lebensstil, der zwar die rebellische Intensität von Punk und seiner härteren, schnelleren Spielart, dem Hardcore, befürwortet, gleichzeitig aber für positives Denken (»positive mental attitude«) und strikte Abstinenz, kurzum für Askese eintritt. Punkrock wird dabei als musikalisches Ausdrucks- und Kommunikationsmittel beibehalten, nicht zuletzt aufgrund seines basisdemokratischen Charakters: Um Punkrock zu spielen, ist keine Ausbildung an der Musikschule notwendig, sondern nur die Beherrschung der sprichwörtlichen three chords. Wenngleich sich sXe auch aus weiteren Quellen speist wie dem linken Flügel der Skinhead-Bewegung und dem Buch Think and Grow Rich[5] von Napoleon Hill, so war doch in erster Linie die Anti-Attitüde des Punk der Motor in den Anfangstagen von sXe. Dabei wurde jedoch mit Hilfe des Mediums Punk das Medium Punk auch kritisch hinterfragt und eine Erneuerung angestrebt, die von innen heraus erfolgen sollte, auf evolutionäre, nicht revolutionäre Weise.

Wenn Minor-Threat-Sänger Ian MacKay in »Straight Edge« die Losung ausgibt »I Don't smoke/I Don't drink/I Don't fuck/At least I can fucking think«[6], so invertiert er darin auf subversive Art das geläufige Schema Unvernunft=Jugend, Vernunft=Erwachsenenalter. Er erteilt dem Klischee eine Absage, Adoleszenz sei dazu da, mit den Erwartungshaltungen ›der Erwachsenen‹ zu brechen und emotionale Intensität durch Akte der Unvernunft zu erfahren. Bei Minor Threat heißt es im Gegenteil: »I'm a person just like you/But I've got better things to do/Than sit around and fuck my head/Hang out with the living dead.«[7]

Diese Strategie der subversiven Affirmation fand schnell Sympathisanten. Statt industriell hergestellte Adoleszenz-Accessoires wie Alkohol oder Zigaretten bereitwillig anzunehmen, appropriieren und übersteigern die überwiegend zwischen 13 und 25 Jahre alten, männlichen und aus der Mittelklasse stammenden Anhänger von sXe[8] (im Folgenden sXer genannt) ›bürgerliche‹ Tugenden wie Selbstdisziplin, Vernunft und Enthaltsamkeit, um einerseits der als scheinheilig empfundenen Mittelschicht durch eine Art Hypervernunft den Spiegel vorzuhalten und sich andererseits von den autoimmunisierenden Tendenzen des Punk zu distanzieren. SXe versucht sich somit an dem Kunststück, Hemmung und Enthemmung, Entsagung und Ekstase, Rebellion und Repression in einem Atemzug zu propagieren. Die aggressive, kathartische Musik und der Tanzstil (Mosh, Slamdance) dienen in diesem Zusammenhang als weitere Distinktionsmerkmale gegenüber der Elterngeneration, während die bereits erwähnten Werte, Ideale und Askesen auch zur Abgrenzung gegenüber der eigenen Generation ins Feld geführt werden. Dass sXe in erster Linie bei männlichen Jugendlichen Anklang findet, beziehungsweise mehr männliche Jugendliche aktive Anhänger der Szene sind, während Anhängerinnen die Ideale von sXe zwar befürworten, aber seltener Bands gründen oder bei Konzerten in den vorderen Reihen stehen, lässt sich vor allem aus den kraft- und körperbetonten Ritualen von sXe erklären. Weiterhin liegt die Hypothese nahe, dass für junge Männer die Entscheidung für einen asketischen Lebensstil sehr viel weiter von gängigen bürgerlichen Rollenerwartungen entfernt liegt, als dies bei jungen Frauen der Fall ist und daher eher als eine Rebellion gegen bestehende gesellschaftliche Strukturen verstanden werden kann

In den Anfängen bildeten die Ablehnung von Drogen[9] und Promiskuität[10] den Kern von sXe, verbunden mit einer auf Unabhängigkeit von kommerziellen Interessen abzielenden Do-It-Yourself-Mentalität (im folgenden DIY genannt). Bald aber differenzierten sich zahlreiche Varianten aus. Es entstanden Verbindungen zu Hare Krishna, Vegetarismus, Veganismus, zur Political-Correctness-Welle sowie zu ökologischen und christlichen Bewegungen. Darüber hinaus traten Ende der 1980er Jahre, unter anderem im Umfeld des Plattenlabels Victory, militante Splittergruppen auf, die als Hardline bezeichnet werden. Neben radikalen ideologischen Positionen – etwa die implizit sexistische Ablehnung von Abtreibungen – brachten Hardline-Bands wie Earth Crisis, Strife, Raid oder Vegan Reich stilistische Elemente aus dem Heavy Metal in die Hardcore-Szene ein. Die Hardliner sind zwar eine Minderheit geblieben, doch erwartungsgemäß übersteigt ihre mediale Wirkungsmacht die der moderaten sXer. Als Mitte der 1990er Jahre sXer in Salt Lake City, Utah, und Syracuse, New York, spektakuläre Anschläge auf Raucher und Alkohol-Konsumenten verübten, erhielt die Subkultur zum ersten Mal breitere mediale Resonanz und wurde in diesem Zusammenhang sogar zum Thema der Fernsehsendung America's Most Wanted auf FOX-TV.[11]

Im Gegensatz zu anderen Subkulturen wie der Skinhead- oder Punk-Bewegung, die sich überwiegend dadurch auszeichnen, dass sie gegen etwas sind und die Enthemmung oder den Rausch loben, ist sXe überwiegend Ausdruck für etwas, wobei die Anhänger in der Entsagung eine Intensitätssteigerung als thymotische Befriedigung ex negativo erleben: Ziel ist eine universalistische, überwiegend biozentrische bis hin zu biospirituelle Purifikation durch emphatischen Verzicht, durch konstruktive Kultur- und Selbsttechniken, durch Selbstkontrolle und -disziplinierung, durch eine ›Übererfüllung‹ bestimmter Idealvorstellungen von einem ›guten Leben‹, das in der Szene sowohl spirituale wie auch konventuale Züge annehmen kann. Dieser Zug zur asketischen und schöpferischen Positivität, in dem auch ein gewisser neoantiker Stoizismus als souci de soi erkennbar wird, ist nicht gerade typisch für jugendliche Gegenkulturen und hat zum Insel-Charakter von sXe maßgeblich beigetragen. SXe kann damit metaphorisch als Entzugsklinik der Popkultur bezeichnet werden.

 

Stand der Forschung

Im neuen Jahrtausend hat sXe eine starke Aufmerksamkeit im geisteswissenschaftlichen Diskurs erfahren. Die auffällige Häufung der Versuche von zumeist jungen, selbst aus der sXe-Szene stammenden Akademikerinnen und Akademikern, sich dem Phänomen wissenschaftlich zu nähern, lässt darauf schließen, dass sXe den Kinderschuhen entwachsen ist und nicht mehr nur praktiziert, sondern aus einer gewissen historischen Distanz reflektiert werden kann.[12]

In der Literatur zu sXe lassen sich drei dominante methodische Ansätze erkennen. Zum einen wird versucht, einen historischen Überblick und eine soziologische Bestandsaufnahme der sXe-Adepten zu geben, etwa in Ross Haenflers Straight Edge: Hardcore Punk, Clean-Living Youth, and social change[13]. Ein weiterer Zugang zur wissenschaftlichen Auseinandersetzung ist die Einordnung von sXe als Teilbereich der Aufarbeitung der Punk- und Hardcore-Szene im Allgemeinen, nachzulesen beispielsweise in Martin Büssers If the kids are united: Von Punk zu Hardcore und zurück[14]. Neuere Publikationen schlagen einen weiteren Weg ein, bei dem vor allem terminologische, vorrangig an ein universitäres Publikum gerichtete Aspekte in den Vordergrund gerückt werden. So fragt sich die Hamburger Soziologin Merle Mulder in ihrer 2009 publizierten Diplomarbeit, ob sXe eine Subkultur, eine Ideologie oder ein Lebensstil sei.[15] Dafür erläutert die Autorin zunächst die intellektuelle Genealogie dieser drei Begriffe, um in einem zweiten Schritt zu erproben, ob sie auf sXe übertragen werden können. Als Conclusio hält sie fest, dass für die Analyse von sXe der Begriff des Lebensstilkonzepts im Sinne Pierre Bourdieus und Georg Simmels am fruchtbarsten sei, da er von der sozioökonomischen Situation einer Person ausgehe und die Suche nach Distinktionsmerkmalen beziehungsweise soziokulturellen Gemeinsamkeiten in den Vordergrund rücke. Leider führt der Versuch, sozialwissenschaftliche Begrifflichkeiten und Methoden zur Analyse von sXe zu nutzen, dazu, dass ein durchaus interessanter Ansatz letztlich einem Schematismus verhaftet bleibt. Anstatt auf organische Weise einen eigenen, aus dem Untersuchungsgegenstand heraus entwickelten Begriff von sXe zu entwickeln, stülpt Mulder ihre methodischen und terminologischen Modelle über den Untersuchungsgegenstand – Martin Heidegger oder Theodor W. Adorno hätten darin wohl einen »Überfall« der Begriffe auf den Gegenstand[16] oder einen Hang zum »Identitätszwang«[17] erkannt.

Einen ebenfalls sozialwissenschaftlichen Zugang zur Analyse der sXe-Bewegung hat der Soziologe Ross Haenfler entwickelt. Haenfler, Assistant Professor an der University of Mississippi und selbst sXe-Anhänger, macht keinen Hehl daraus, dass er der Szene grundsätzlich positiv gegenüber steht und widmet sein Buch allen »positive straight edge kids who strive for a more just, peaceful, and sustainable world«[18]. Dem Soziologen gelingt es jedoch, seine persönliche Voreingenommenheit kritisch zu reflektieren, indem er sie als solche expliziert und auch unerfreuliche Züge der Szene wie Homophobie, Sexismus, Militarismus, Machotum und Intoleranz zur Sprache bringt. Sein Buch ist konsequenterweise in der Ich-Perspektive geschrieben und nähert sich dem Phänomen mit den Methoden der soziologischen Feldforschung und der feministischen Ethnographie[19]. Die Quellen des Autors sind überwiegend selbst geführte Interviews, eigene Beobachtungen auf Konzertbesuchen sowie Fanzines, Internetseiten, Musikvideos, Songtexte. Neben wertvollen, wenngleich bruchstückhaften empirischen Daten zu sXe als sozialem Milieu entwickelt Haenfler eine nützliche tabellarische Periodisierung. Derzufolge lässt sich die Geschichte von sXe in Old School (1979-1985), Youth Crew Era (1985-1991), Emo-Influenced/Politically Correct (1989-1995), Victory Style (1991-2001), Youth Crew Revival (1997-2006) und Metalcore (1998-2006) unterteilen, wobei keine der genannten Phasen die jeweils vorhergehende ablöst, sondern sie vielmehr ergänzt, durchdringt oder absorbiert.[20]

»Youth Crew Era« bezieht sich dabei auf den gleichnamigen Song der New Yorker Band Youth of Today, welche nach Minor Threat zur zweiten Gallionsfigur von sXe avanciert. Die neuen bestimmenden Themen der Zeit von 1985-1991 sind Vegetarismus und Veganismus, aber auch »positivity, personal responsibility, loyalty, sXe pride, and fun«[21]. Der »certain lightheartedness«[22] der Youth Crew Era entspricht der bunte und legere Look der Anhänger: Sweat-Shirts, Hoodies, Cargo Shorts, Basketball- und Joggingschuhe sowie kurzärmlige T-Shirts, die über langärmligen getragen werden. Der charismatische Sänger von Youth of Today, Ray Cappo, zeichnet überdies verantwortlich für den ersten Spiritual Turn in sXe, indem er für Hare Krishna und ihren Begründer ›His Divine Grace AC Bhaktivedanta Swami Prabhupada‹ wirbt, der die Lehre in den 1960er und 1970er Jahren auf US-amerikanischem Boden popularisierte. Haenfler behandelt die kryptoreligiösen Aspekte von sXe in seinem Buch jedoch nur am Rande. Ausführlicher hingegen werden Gender-Fragen diskutiert.

Auch Martin Büssers Buch über die Geschichte von Punk und Hardcore beruht auf den autobiographischen Erfahrungen des 2010 verstorbenen Autors, der zu den wichtigsten und interessantesten deutschen Journalisten und Publizisten aus dem linksalternativen Bereich zählte. Als Fanzine-Autor, Journalist und Herausgeber beim Ventil-Verlag prägte Büsser die Entwicklung eines avancierten Pop-Diskurses ohne Szene-Scheuklappen seit den 1980er Jahren maßgeblich mit. Er betrachtet Hardcore und sXe kritischer als Haenfler, Punk hingegen kommt besser weg. Für Büsser repräsentiert Punk in seiner ursprünglichen Bedeutung das pralle Leben, Lust, Spaß und Freiheit fernab jeglicher Hierarchien und Autoritäten. Hardcore hingegen sei »der durchaus gut gemeinte Anfang, die Splitter, die vom Punk übrig geblieben sind, zusammenzukehren, es erneut, aber anders, zu versuchen. So sehr den Punks die Hippie-Ästhetik ein Greuel war, begann Hardcore als Gegenreaktion zum abgewrackten Punk, ohne ihn allerdings wirklich überwunden zu haben, ohne ihm wirklich etwas völlig Neues entgegenhalten zu können«[23].

Zwar fällt es Büsser schwer, Hardcore »als klar ausgeprägte, lokalisierbare Bewegung festzumachen«[24], doch im Vergleich zum anarchischen und unverkrampften Punk diagnostiziert er im Hardcore einen »Gefühlsstrudel aus Trauer, Haß und Betroffenheit, dessen gebeuteltes Selbstbewußtsein bis zur Askese führte, der Selbstkasteiung von ›Straight Edge‹ – sex- und rauschfreies Karma«[25]. Konsequenterweise vergleicht Büsser die kahlgeschorenen sXe-Kids in ihren Kapuzenpullis mit Mönchen. SXe wäre demnach nichts als eine weitere Steigerung der Humorlosigkeit und der Verbissenheit des Hardcore, wobei Büsser heitere und selbstironische sXe-Bands wie Black Train Jack oder Good Clean Fun nicht in seine Analysen einbezieht. Gleichwohl ist unbestreitbar, dass sXe trotz humoristischer Zusatzstoffe immer ein wenig nach Priesterseminar und puritanistischer Dekadenzkritik riecht, wie weiter unten gezeigt werden wird.

 

Forschungsdesiderate

Ziel des vorliegenden Essays ist nicht, einen noch präziseren, noch korrekteren, noch akademischeren Begriff von sXe zu entwickeln. Büsser hat recht, wenn er bemerkt, dass es unmöglich ist, eine eindeutige Definition von Hardcore im Allgemeinen und sXe im Speziellen zu liefern. Auch Robert T. Wood betont, sXe sei »internally complex and sometimes internally contradictory […] despite the existence of its frame of reference«[26]. Im Folgenden soll stattdessen ein pragmatischerer Zugang zur Analyse von sXe gelten: SXe ist, was sich selbst als sXe im nicht-ironischen Sinne bezeichnet und – in organisierter oder privater Form – die grundlegenden Szene-Ideale in seinen Alltag integriert. Bei dem nachfolgenden Versuch, die Kerninhalte und -haltungen von sXe vor einem breiteren mentalitäts- und ideengeschichtlichen Hintergrund zu verorten, sei also die deklarative, explikatorische und performative Komponente ausschlaggebend. Besagter Hintergrund, so die eingangs erwähnte Hypothese, bildet die Geschichte der Kulturkritik und damit die überwiegend in totalisierenden oder zumindest pauschalisierenden Begriffen vorgebrachte Kritik an der Moderne. Dabei wende ich die einfache Methode der diachronen vergleichenden Studie an. Zunächst soll dabei der kleinste gemeinsame Nenner aller Ausprägungen von sXe bestimmt werden. In einem zweiten Schritt werden zentrale Merkmale der Kulturkritik erörtert. In einer Schlussfolgerung werden sXe und Kulturkritik auf Analogien und Inkommensurabilitäten überprüft und auf ihren kryptoreligiösen Gehalt befragt. Ich gehe jedoch nicht von kausalen Beeinflussungen aus, sondern von der eher poststrukturalistischen These, dass bestimmte Topoi zwar historisch, topographisch, systemisch unspezifisch sind, aber trotzdem weder als Archetypen noch als anthropologische Konstanten bezeichnet werden können. Im Sinne von Michel Foucaults Theorem des »historischen Aprioris«[27] kann von kontingenten, tiefenstrukturellen Bedingungen ausgegangen werden, welche tradierte Episteme, Mentalitäten und Diskurse in unterschiedlichen Epochen jeweils neu formatieren. Geschichte sei somit definiert als die kontinuierliche Koinzidenz von Nietzsches ewiger Wiederkehr des Gleichen und Foucaults epistemischen Brüchen. SXe wird im Folgenden mit Blick auf dasjenige Wissen, diejenigen Ideen und diejenigen Mentalitäten untersucht, welche gewissermaßen seine unbewusste oder, um Foucaults obskurantistische Epistemologie mit Bourdieu soziologisch zu erden, habituelle Geschichte bilden.[28]

Im Gegensatz zu Mulders These, dass sXe keine Subkultur sei, gehe ich davon aus, dass sXe eine Subkultur sui generis ist. Mulder argumentiert, der Begriff Subkultur als solcher sei hinfällig geworden, da in der Postmoderne keine homogene Leitkultur mehr bestünde, von welcher sich eine Subkultur überhaupt abgrenzen könne.[29] Diese Ansicht ist in zweierlei Hinsicht problematisch. Zum einen zeichnet sich die postmoderne Gesellschaft durch die Simultaneität von Vermassung und Ausdifferenzierung.[30] Auf eine Formel gebracht: Zwar bestehen die meisten Menschen in den postmetaphysischen Konsumkulturen auf ein unabhängiges Selbstdesign, aber einen Handy-Vertrag, ein Bankkonto, eine Emailadresse, einen Fernseher, fließend Wasser und eine Krankenversicherung hat doch fast jeder. Wenn das nun adornitisch klingt, so ist das durchaus beabsichtigt.[31] Sicherlich wäre es utopisch, die ›Totalität‹ der Gesellschaft in den Blick bekommen zu wollen, woran Horkheimer und Adorno in einem letzten Aufwallen modernistischer Verve noch zu glauben wagten.[32] Nichtsdestotrotz kann der kleinste gemeinsame Nenner der gegenwärtigen prosaischen Zustände bestimmt werden. Dieser Nenner nennt sich Konsum.

Faktisch hat der Kapitalismus in den entwickelten Industriestaaten mehr Egalität geschaffen als die agrarischen Gesellschaften, die er ablöste. Pauperismus hat heute nicht mehr die gleiche Bedeutung wie im 18. oder 19. Jahrhundert. Mehr Bevölkerungsgruppen als je zuvor partizipieren am Konsum und definieren sich über Produktklassenzugehörigkeit. Das ist der Mainstream. Darüber hinaus kann Mainstream auch ein gefühlter Zustand sein. Selbst oder gerade als Fiktion zeitigt er reale Effekte. Dafür muss er weder begrifflich bestimmt, noch präzise lokalisiert werden können. Mainstream entsteht dort, wo Menschen eine Negativfolie suchen, von welcher sie sich abgrenzen können, um ihre eigene Identität zu konstituieren. Wer Mainstream sucht, wird Mainstream finden. Anstatt vom Elfenbeinturm herab zu fragen: Von welchem objektiv benennbaren und wissenschaftlich klassifizierbaren Mainstream könnte sich sXe überhaupt noch als Subkultur abgrenzen? gilt es heraus zu finden: Welche realistischen, überzogenen oder gar phantasmatischen Vorstellungen vom Mainstream existieren in sXe, wie werden sie kommuniziert, wie entfalten sie eine stimulative Kraft? Der Diskurs ist keine mimetische Reproduktionstechnik. Der Diskurs ko-produziert auch die Verhältnisse, von denen er spricht.

 

SXe als Erbin der Kulturkritik

Eine Analyse der Songtexte von verschiedenen sXe-Bands lässt ungeachtet variierender ideologischer Härtegrade und weltanschaulicher Differenzen einen gemeinsamen Horizont erkennen. Bei allen sXern wird das Axiom eines als korrumpiert und unmoralisch empfundenen Mainstreams vorausgesetzt.[33] Zur Verdeutlichung lassen sich einige Vertreter von Youth Crew Era, Victory Style und Youth Crew Revival hervorheben, ergänzt um den schwerer verortbaren Henry Rollins (die Old School Era wurde mit Minor Threat bereits weiter oben diskutiert).

In Youth of Todays Song »Youth Crew« (1985, Youth Crew Era) heißt es im Tonfall religiöser Bekenntnisse: »X on my hand now take the oath/To positive youth to positive growth/To positive minds, to pure clean souls/These will be all my goals«.[34] Düsterere, aber nicht weniger bekenntnishafte und säkularsakrale Töne schlagen Strife in ihrem Song »Arms of the few« (1994, Victory Style) an: »I'm held – in the arms of the few!/I walk in line with the sacred, never breaking my vow/I swear to you/A rise of commitment strong, a vision to which it belongs/Purity of the mind and body, to keep the resistance moving on[…].«[35]

Noch kompromissloser geben sich Earth Crisis in »Firestorm« (1993, Victory Style), einem der größten sXe-Hits der 1990er Jahre. Er ist die Hymne des radikalisierten Teils der Szene und porträtiert die heutige Welt in einem rhetorischen Rundumschlag als ein einziges Sodom und Gomorrha: »A chemically tainted welfare generation/Absolute complete moral degeneration/Born addicted, beaten and neglected/Families torn apart, destroyed and abandoned/Children sell their bodies, from their high they fall to drown/Demons crazed by greed cut bystanders down/Corrupt politicians, corrupt enforcement, drug lords and dealers; all must fall/The helpless are crying out/We have risen to their call/A firestorm to purify.«[36] Wer also glaubte, der Manichäismus sei von gestern, hat sich geirrt.

Gegen diese Pauschalapokalyptik opponiert die Washingtoner Band Good Clean Fun. In ihrem populären Song »In Defense of all Life« (2000, Youth Crew Revival) nimmt sie militaristische Gesinnungsgenossen auf die Schippe. Die zentrale Passage des Songs ist es wert, in voller Länge zitiert zu werden: »Peaceful protest doesn't get the job done/So I wake up for the rally, grab my soy milk and my gun/Breakfast with the family, get the grub on, see what's up/Then I saw my sister had milk in her cup/I jumped out of my chair and sprayed her with my mace/I Yelled ›Vegan Power!‹ and I kicked her in the face/Dad was bugging, he started to run/But he's a meat eater so I pulled out my gun/Shot him in the back, then I shot his wife/That's how it's got to be in defense of all life.«[37] Doch selbst die Funapostel kommen nicht ohne eine patronisierende Generalabrechnung aus. Im Song »Loserdotcom« wird der klischeehafte Typus des Computer-Nerds und Stubenhockers auf eine Weise diskreditiert, die verdächtig an Turnvater Jahn erinnert: »If you can't get a date 'cause you live with your Mom/Then you're feeling at home at Loserdotcom/If you don't have a life but plenty of RAM/Then you're feeling at home at Loserdotcom.«[38] Das hat durchaus humoristische Qualität, beruht aber auf den klassischen Formeln der Dekadenzkritik.

Der ansonsten eher pragmatisch-liberale homo oeconomicus Henry Rollins lehnt nicht nur illegale und legale Drogen ab, sondern auch Mittelmaß und Mäßigung im Allgemeinen, kurz: den ›Durchschnittsbürger‹ als solchen: »The day to day can become such a trip/The mediocre can make you lose your grip«[39], singt der Kraftsportler in »Up for it« (2001). Black Train Jack wiederum – der Bandname ist einem von Rollins' Songtexten entlehnt – beschwören in ihrer Musik einen heiteren Pazifismus und eine nachgerade kindliche Harmonie. In einer Strophe von »You're not alone« (1994, Youth Crew Revival) heißt es: »I don't hurt myself internally/I'm poison free intentionally/A choice I made a long time ago/Because doing iy up on Friday nights/Going out and starting fights/These are things I don't need to know«.[40]

Sinn und Zweck dieses Zitaten-Sammelsuriums ist es nicht, alle genannten Künstler und Bands gleichzusetzen. Im Sinne von Bourdieus soziologischer Feldtheorie verbindet vielmehr alle sXer eine habituelle Dimension.[41] Glaubensbekenntnisse, Reinheitsgebote, Lob des Gemeinwesens, Schwüre, Dekadenzkritik, Opferbereitschaft, pazifistischer Gewaltverzicht oder aber die Androhung alttestamentarischer Gottesstrafen in Form von Feuerstürmen – dieses Geschwader idealistischer Topoi lässt keinen Zweifel daran, dass Büsser mit seinem oben zitierten Mönchs-Vergleich richtig liegt. Gleichwohl kann sXe nicht als religiöse Bewegung im engeren Sinne bezeichnet werden, da ein transzendenter Nukleus fehlt. Somit bleibt die normative und sittliche Komponente der Religion als Rumpf in sXe bestehen, wie in einem Mönchsorden ohne Gott.[42] Hierfür bietet sich der bereits erwähnte Begriff Kryptoreligiosität oder »Zivilreligiosität« an.

Wenn die oben aufgeführten impliziten oder expliziten, unmissverständlichen oder ironischen Negativszenarien und das daraus abgeleitete Ideal eines normativen, puristisch-asketischen Lebensstils den semantischen Kern von sXe bilden, die Szene aber keinen gemeinsamen transzendenten Bezugspunkt hat, was eine klare Definition als religiöse Bewegung rechtfertigen würde, so liegt es nahe, in sXe zuallererst eine an ein jugendliches oder adoleszentes Publikum adressierte Variante der Kulturkritik zu erkennen. Mit Kulturkritik meine ich in diesem Zusammenhang nicht allgemeinsprachliche Varianten wie ›Früher war alles besser‹ oder ›Die Zeiten sind schlecht‹. Ich definiere Kulturkritik im Sinne des Kulturwissenschaftlers Georg Bollenbeck, der darunter eine spezifische Form der skeptischen Auseinandersetzung mit Aufklärung und Moderne verstand. So erhalten Bollenbeck zufolge »beide Wörter des Kompositums Kulturkritik [...] ihre semantische Kontur im Verlauf der europäischen Aufklärung«[43]. Kulturkritik zeichne sich aus durch einen »alarmistischen, hypergeneralisierenden Charakter; sie ist subjektiv-wertend, umgeht eine analytische Vertiefung; sie ist kasuistisch-empirisch, nicht systematisch-empirisch. Sie urteilt gesinnungsethisch-normativ. Sie ist ein affektiver Reflexionsmodus. Sie setzt, um mit einem prominenten Kulturkritiker [Günther Anders, Anm. des Autors] zu sprechen, auf ›Übertreibung in Richtung Wahrheit‹«[44]. Im Gegensatz zu älteren Klagen über den Niedergang von Moral und Sitten entfalte sich moderne Kulturkritik vor dem Hintergrund eines ideengeschichtlichen Horizonts, in welchem »Geschichte als ein Prozess zunehmender Vervollkommnung bestimmt werden kann und Fortschritt als ›progressus‹ innerweltliche Entwürfe erlaubt [...] Kulturkritik erweitert aber nicht nur mit ihrem im Zeichen des weiten Kulturbegriffs aufgespannten Totalitätshorizont den Kritikbereich, sie verschärft auch ihre Kritik, weil die Übel der Zivilisation nicht mehr durch eine transzendentale Berufungsinstanz gerechtfertigt werden«[45].

Was die Inhalte der Kulturkritik anbelangt, so beklagen ihre Exponenten meist soziale Ungleichheit (Rousseau), Rationalisierung und Ökonomisierung (Schiller), Entfremdung (Marx), Orientierungsverlust (Hans Sedlmayr), Dekadenz (Nietzsche), Technisierung (Paul Virilio). In den meisten Fällen handelt es sich um unausweichlich vage, weil generalisierende Diskurse.[46] Gerade aus dieser Unschärfe beziehen sie ihre Kraft. Nur weil jede Ausprägung der Kulturkritik auf einer normativen Vorstellung vom Menschen beruht, die nie in Reinform auftritt und somit das Krisenbewusstsein fast unausweichlich macht, kann sie sich gegen ihre Zeit stemmen. Der Hang zur Verallgemeinerung ist deshalb der gemeinsame Grund von Kulturkritikern aus dem rechten und dem linken Lager. Der dem Nationalsozialismus nahe stehende Katholik Hans Sedlmayr beispielsweise ging davon aus, dass das Heil des Menschen aus einer einzigen Quelle entspringe – was ihn nicht daran hinderte, sein persönliches Konkordat mit dem heidnischen NS-Staat zu schließen: »Es wird verkannt, daß zum Wesen des Menschen ›Persönlichkeit‹ gehört, daß aber ›Persönlichkeit‹ nur als Ebenbild Gottes definiert und festgehalten werden kann.«[47] Sicherlich wäre es unredlich, Schiller, Marx und Sedlmayr in einem Atemzug zu nennen. Die Differenzen zwischen ihren ideologischen Positionen sind offensichtlich. Was sie ungeachtet dessen verbindet, ist der Versuch, einen normativen umbilicus mundi zu bestimmen und von diesem ausgehend die Gegenwart kritisch zu bewerten. Während Marx die sozioökonomischen Zustände als Letztbegründung der menschlichen Existenz setzt und das Material über den Geist stellt, basiert Sedlmayrs dogmatische Vorstellung vom gelingenden Leben auf einer Mixtur aus Autoritarismus und Katholizismus mit caesaropapistischem Einschlag.

Fast alle der genannten Charakteristika der Kulturkritik finden wir auch in den Texten von sXe-Bands oder Interviews mit sXern[48], vom Community-Gedanken als Gegenentwurf zu Individualisierung und Ausdifferenzierung bis hin zur DIY-Mentalität als Alternative zu big business, vom Essentialismus als Heilmittel gegen Orientierungsverlust bis hin zur Askese als gelebte Dekadenzkritik. In jedem Fall fußt sXe auf einer normativen Moralverstellung, die gegen Relativismus und Utilitarismus Stellung bezieht und darüber hinaus bestrebt ist, Kontingenzerfahrungen zu mildern. Typisch für sXe sind eben jene oben zitierten »innerweltlichen Entwürfe« mit einer starken Betonung auf zeitgemäßer sozialer Pragmatik, die sich gleichwohl an transhistorischen und damit kryptoreligiösen Normen orientiert. Wenn weiterhin in der sXe-Szene nicht nur nostalgisch geklagt wird, sondern, anders als beispielsweise im eher auf formale Codes bedachten Heavy Metal, konkrete Gegenmodelle entwickelt werden – Verhaltenskodexe, Konsumregeln, ethisch korrekte Produkte – so lässt sich auch darin eine Analogie zur Kulturkritik erkennen.

Im Gegensatz zum defätistischen Kulturpessimismus benennt Kulturkritik Alternativen wie beispielsweise Schiller mit seinem »Reich des Spiels und des Scheins«[49], Sedlmayr mit seinem christologisch-austrofaschistischen Phantasma des gottgleichen Menschen[50] oder Nietzsche mit seinem neo-aristokratisch-liberalen Gesellschaftsmodell. Kulturkritik ist insofern implizit idealistisch, als sie das Ideal als die eigentliche, nur noch nicht verwirklichte Realität definiert, was wiederum erklären mag, warum sie gerade in der idealistisch geprägten Philosophie Deutschlands ihre prominentesten Vertreter gefunden hat. Auf strukturell vergleichbare Weise propagiert sXe – zumindest anfänglich – eine Zurückweisung des Monopolkapitalismus' und eine Wende zu einer kulturellen Subsistenzwirtschaft, in welcher Produkt und Produzent eine Symbiose bilden. In Eigenregie produzierte Flyer, Plattencover, Fanzines und Garagenkonzerte sollten – in den frühen 1980er Jahren ungleich häufiger als in Zeiten des Internets – eine weitgehend unabhängige kulturelle Praxis ermöglichen. Die Ablehnung der Abhängigkeit von narkotisierenden Substanzen korrespondiert also mit der Ablehnung der Abhängigkeit von Medienkonzernen. In sXe können derartige Alternativentwürfe als Kompensationsangebote dienen, in quasi-lebensreformerische Sezessions-Projekte münden oder, in den radikalen Nischen der Szene, als Katalysatoren einer Revolution betrachtet werden.

Gleichwohl treffen nicht alle genannten Charakteristika der Kulturkritik auf jede Schattierung von sXe gleichermaßen zu. Wie erläutert, sind sowohl Kulturkritik als auch sXe schwer zu definieren, ja sie können überhaupt nur durch eine Analyse des konstitutiven Spannungsverhältnisses zwischen den core values und den regionalen und zeitlichen Idiosynkrasien bestimmt werden. So zeichnen etwa Minor Threat und Henry Rollins ein hohes Reflexionsniveau und ein geringerer Hang zum Alarmismus aus, wohingegen Earth Crisis alle Register der Demagogik ziehen.

Zusammenfassend sei festgehalten: In der ›Wie‹-Perspektive ähnelt sXe (erneut: immer vom kleinsten gemeinsamen Nenner her gedacht) der Kulturkritik mit Blick auf den oben genannten diskursiven, rhetorischen, kommunikativen Habitus, in der ›Was‹-Perspektive sind es das – latente oder explizite – Axiom des moralischen und sittlichen Verfalls, aus welchem sich der für sXe typische biozentrische Purismus ableitet. In dieser Hinsicht folgt sXe dem Exklusivitätsdenken monotheistischer Religionen und dem Totalitätsdenken der Kulturkritik gleichermaßen.[51] Vom Selbstanspruch her ist sXe für einen one night stand nicht zu haben – »virtually all sXers still insist that sXe be a lifetime commitment.«[52] So verschränken sich in der Figur des sXers der postmetaphysische Mönch, der moderne Kulturkritiker und der subkulturelle Pop-Adept.

 

Literatur

Bücher und Aufsätze

 

Bollenbeck, Georg: Eine Geschichte der Kulturkritik: Von Rousseau bis Günther Anders, München: Beck'sche Reihe 2007.

Bourdieu, Pierre: Zur Soziologie der symbolischen Formen, Frankfurt/Main.: Suhrkamp 1974.

Büsser, Martin: If the kids are united: Von Punk zu Hardcore und zurück, Mainz: Ventil 2006.

Michel Foucault: »Das historische Apriori und das Archiv«, in: Lorenz Engell/Oliver Fahle/Britta Neitzel/Claus Pias/Joseph Vogl (Hgg.), Kursbuch Medienkultur, Stuttgart: DVA 2005.

Fukuyama, Francis: The End of History and the Last Man, New York; London; Toronto; Sydney: Free Press 2006.

Haenfler, Ross: Straight Edge: Hardcore Punk, Clean-Living Youth, and social change, New Brunswick; New Jersey; London: Rutgers University Press 2006.

Heidegger, Martin: Holzwege, Frankfurt/Main: Vittorio Klostermann 2003.

Hill, Napoleon: Think and Grow Rich, New York: Random House/Ballantine Books 1983.

Horkheimer, Max und Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung, Frankfurt/Main: Fischer 2006.

Jung, Arthur (Hg.): Schiller's Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen, Leipzig: Teubner 1875.

König, Wolfgang: Kleine Geschichte der Konsumgesellschaft: Konsum als Lebensform der Moderne, Stuttgart: Franz Steiner 2008.

Le Goff, Jacques: Der Mensch des Mittelalters, Essen: Magnus 2004.

Mulder, Merle: Straight Edge: Subkultur, Ideologie, Lebensstil?, Münster: Telos 2009.

Scheller, Jörg: »Schwarze Seelen, schwarze Zahlen. Wenn der Satan in die Charts fährt: Cradle of Filth machen Black-Metal salonfähig«, in: Stuttgarter Nachrichten, 12. April 2003, S. 21.

Sedlmayr, Hans: Verlust der Mitte: Die bildende Kunst des 19. und 20. Jahrhunderts als Symptom und Symbol der Zeit, Frankfurt/Main; Berlin; Wien: Ullstein 1977.

Walter-Busch, Emil: Geschichte der Frankfurter Schule: Kritische Theorie und Politik, München: Wilhelm Fink 2010.

Wood, Robert T.: Straight Edge Youth: Complexity and Contradictions of a Subculture, Syracuse: Syracuse University Press 2006.

Wyss, Beat: Nach den großen Erzählungen, Frankfurt/Main: Suhrkamp 2009.

 

CDs

Black Train Jack, You're not alone, CD, Roadrunner Records, 1994.

Earth Crisis, Firestorm, CD (Single), Victory Records, 1993.

Good Clean Fun, Positively Positive 1997-2002, CD, Equal Vision Records, 2007.

Rollins Band, Nice, CD, Sanctuary Records, 2001.

Strife, One Truth, CD, Victory Records, 2004.

Youth of Today, Can't close my eyes, CD, Revelation Records, 2003.

 

Filme

Paul Rachman (Regisseur), American Hardcore: Die Geschichte des American Punk Rock 1980-1986, AHC Productions im Vertrieb von Sony Pictures Home Entertainment, DVD, 2006.

 

Internet

http://www.spiegel.de/schulspiegel/leben/0,1518,430242,00.html. 22.11.2009.

 



[1] Beispielsweise Cradle of Filth, die von 2003-2004 bei Sony Records unter Vertrag standen, vgl. hierzu Jörg Scheller: »Schwarze Seelen, schwarze Zahlen. Wenn der Satan in die Charts fährt: Cradle of Filth machen Black-Metal salonfähig«, in: Stuttgarter Nachrichten, 12. April 2003, S. 21.

[2] Das Plattenlabel Victory Records beispielsweise erzielte vor allem in den 1990er Jahren hohe Umsätze mit Bands wie Strife und Earth Crisis. Auch MTV wurde zeitgleich auf sXe aufmerksam und spielte das Musikvideo zur Single »Liar« des sXe-Adepten Henry Rollins in der Heavy Rotation.

[3] Vgl. Ross Haenfler: Straight Edge: Hardcore Punk, Clean-Living Youth, and social change, New Brunswick/New Jersey/London: Rutgers Universtity Press 2006, S. 9: »The youths who would form the nascent sXe scene appreciated punk's ›question everything mentality‹, raw energy, aggressive style, and do-it-yourself attitude, but were not attracted to the scene's hedonism and ›no future‹ mantra.«

[4] Ebd., S. 10.

[5] Vgl. Napoleon Hill: Think and Grow Rich, New York: Random House/Ballantine Books 1983; vgl. Interview mit Dr. Know von den Bad Brains in: Paul Rachman (Regie): American Hardcore: Die Geschichte des American Punk Rock 1980-1986, AHC Productions im Vertrieb von Sony Pictures Home Entertainment, DVD, 2006: »The Think and Grow Rich-concept was just a positive influence. And that was the catalyst just to make us fine guys.«

[6] Zitiert nach: Haenfler, S. 7.

[7] Zitiert nach: Ebd.

[8] Vgl. Merle Mulder: Straight Edge: Subkultur, Ideologie, Lebensstil?, Münster: Telos 2009, S. 148; vgl. Haenfler, S. 10.

[9] Die Haltung zu Drogen in sXe lässt sich von der drug-free-Bewegung dahingehend abgrenzen, als in den USA unter »drug free« nur die Ablehnung harter Drogen wie Heroin und Kokain verstanden wird. Raucher oder Alkohol-Konsumenten könnten sich somit ebenfalls als drug free, nicht aber als straight edge bezeichnen.

[10] Vgl. Robert T. Wood: Straight Edge Youth: Complexity and Contradictions of a Subculture, Syracuse: Syracuse University Press 2006, S. 6, S. 72, S. 149.

[11] Vgl. Wood, S. 11: »Public knowledge mainly came from mass media presentations of the extreme and brutal violence committed by a very small minority of straightedgers, mostly located in Salt Lake City, Utah, and Syracuse, New York […]. During the late 1990s, several television programs and newspapers reported stories about aggravated assaults and even murders allegedly committed by straightedgers against drinkers and drug users, stories that quickly marred the overall reputation of straightedge culture.«

[12] In gewissem Sinne trifft das sowohl auf sXe im Speziellen, als auch auf Punkrock und Hardcore im Allgemeinen zu. So endet der wegweisende Dokumentarfilm American Hardcore (2006) mit den Worten von Bruce Loose (Flipper): »I will be actually the first ›punk‹ or whatever person who says: punk is dead« (Paul Rachman (Regie), American Hardcore: Die Geschichte des American Punk Rock 1980-1986, 2006). Als »goldenes Zeitalter« von Hardcore gilt die Zeit zwischen 1980 und 1986, der auch American Hardcore gewidmet ist. Mitte der 1990er Jahre bringt der frühere Black-Flag-Sänger Henry Rollins noch einmal die Ideale von sXe einem breiteren Publikum näher. Durch seinen MTV-Hit »Liar« (1994) erhält Rollins die Möglichkeit, in Songtexten, Interviews, Büchern und Spoken-Word-Performances seine Herkunft aus der sXe-Szene von Washington und seine Verbundenheit mit ihr zu unterstreichen. Seitdem Rollins nur noch sporadisch als Musiker aktiv ist, hat sXe in der US-amerikanischen Popkultur deutlich an Präsenz eingebüßt. In Europa hingegen wurden die Medien eher verspätet auf die Szene aufmerksam. Spiegel Online etwa widmete sich dem Thema 2006 ohne tagesaktuellen Anlass unter der reißerischen Überschrift »Die härtesten Weicheier der Welt« (vgl.: http://www.spiegel.de/schulspiegel/leben/0,1518,430242,00.html. 22.11.2009.).

[13] Vgl. Haenfler.

[14] Vgl. Martin Büsser: If the kids are united: Von Punk zu Hardcore und zurück, Mainz: Ventil 2006.

[15] Vgl. Mulder, Titel des Buches.

[16] Vgl. Martin Heidegger: Holzwege, Frankfurt/Main: Vittorio Klostermann 2003, S. 56f.

[17] Vgl. Emil Walter-Busch: Geschichte der Frankfurter Schule: Kritische Theorie und Politik, München: Wilhelm Fink 2010, S. 153-157.

[18] Haenfler, keine Seitenangabe.

[19] Vgl. Haenfler, S. 25: »Throughout my research, I referred to principles I had learned from feminist methodologists. Feminist ethnography emphasizes, for example, ›identification, trust, empathy and nonexploitive relationships‹ (Punch 1986:89), which I intentionally incorporated into my research relationships.«

[20] Vgl. Haenfler, S. 11-17, S. 218-219.

[21] Haenfler, S. 12.

[22] Ebd., S. 14.

[23] Büsser, S. 128.

[24] Ebd.

[25] Ebd., S. 120-121.

[26] Wood, S. 21.

[27] Vgl. Michel Foucault: „Das historische Apriori und das Archiv“, in: Lorenz Engell/Oliver Fahle/Britta Neitzel/Claus Pias/Joseph Vogl (Hgg.), Kursbuch Medienkultur, Stuttgart: DVA 2005, S. 489-494.

[28] Vgl. Beat Wyss: Nach den großen Erzählungen, Frankfurt/Main: Suhrkamp 2009, S. 95: »Die Analyse habitueller Formen muß immer den Kippeffekt zwischen bewußten und unbewußten Botschaften berücksichtigen.«

[29] Vgl. Mulder, S. 149: »Zunächst zum Subkulturkonzept. Dieses erweist sich bereits insofern als problematisch, als das [sic] hier von einer ›dominanten‹ bzw. ›Gesamtkultur‹ als Grundlage ausgegangen wird, der die Subkultur gegenüberstehe. Die Frage ist jedoch, wie eine solche dominante bzw. Gesamtkultur heute aussehen sollte. Im sozialwissenschaftlichen Diskurs wird vielmehr darauf hingewiesen, dass eine derartige Annahme angesichts fortgeschrittener gesellschaftlicher Differenzierungs-, Pluralisierungs- und Individualisierungsprozesse nicht mehr haltbar sei.«

[30] Vgl. Francis Fukuyama: The End of History and the Last Man, New York; London; Toronto; Sydney: Free Press 2006, S. 244: »In the contemporary world, we see a curious double phenomenon: both the victory of the universal and homogeneous state, and the persistence of peoples. One the one hand, there is the ever-increasing homogenization of mankind being brought about by modern economics and technology, and by the spread of the idea of rational recognition as the only legitimate basis of government around the world. On the other hand, there is everywhere a resistance to that homogenization, and a reassertion, largely on a sub-political level, of cultural identities that ultimately reinforce existing barriers between people and nations.« The triumph of the coldest of all monsters has been incomplete.«

[31] Vgl. Max Horkheimer und Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung, Frankfurt/Main: Fischer 2006, S. 128: »Die soziologische Meinung, daß der Verlust des Halts in der objektiven Religion, die Auflösung der letzten vorkapitalistischen Residuen, die technische und soziale Differenzierung und das Spezialistentum in kulturelles Chaos übergegangen sei, wird alltäglich Lügen gestraft. Kultur schlägt heute alles mit Ähnlichkeit. Film, Radio, Magazine machen ein System aus. Jede Sparte ist einstimmig in sich und alle zusammen.«

[32] Vgl. Wyss, S. 80-81: »In Abgrenzung von der empirischen Soziologie entwickelte Adorno den Begriff der ›gesellschaftlichen Totalität‹ als Grundlage der Kritischen Theorie. Er umschreibt die Einheit der maßgebenden Erscheinungsform einer Gesellschaft. Aufgabe der soziologischen Forschung im Sinne der Frankfurter Schule ist es, den grundlegenden Strukturzusammenhang der kapitalistischen Gesellschaft zu analysieren. [...] Die Kritische Theorie ist darauf bedacht, alle Formen der sozialen Wirklichkeit unter dem einen Aspekt von Marxens Arbeitswerttheorie zu behandeln: Diese geht aus von der These, daß im Kapitalismus alle gesellschaftlich vollzogenen Tauschformen Warencharakter haben: Güter, Dienstleistungen und Lohnarbeit lassen sich in einem allgemeinen Wert, dem Geldwert, ausdrücken.«

[33] Vgl. Mulder, S. 153: »Vielfach wird die ›Unity‹ der Straight Edger untereinander betont sowie die scharfe Abgrenzung von anderen, insb. Punks und ›Mainstream-Jugendlichen‹, hervorgehoben.« Anm. d. A.: Ich erinnere mich an meine erste sXe-Kassette, die ich irgendwann Anfang der 1990er Jahre hörte. Die Band hieß True to Life und stammte aus der süddeutschen Provinz, ich weiß nicht, ob sie noch existiert. Eine Textzeile lautete: »Individuality is a crime / Unity is everything.«

[34] Youth of Today, Can't close my eyes, CD, Revelation Records, 2003.

[35] Strife, One Truth, CD, Victory Records, 2004.

[36] Earth Crisis, Firestorm, CD (Single), Victory Records, 1993.

[37] Good Clean Fun, Positively Positive 1997-2002, CD, Equal Vision Records, 2007.

[38] Ebd.

[39] Rollins Band, Nice, CD, Sanctuary Records, 2001.

[40] Black Train Jack, You're not alone, CD, Roadrunner Records, 1994.

[41] Vgl. Pierre Bourdieu: Zur Soziologie der symbolischen Formen, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1974, S. 125-158.

[42] Wer nun empört einwendet, Mönch und Punk dürften nicht in eins gesetzt werden, dem sei entgegnet, dass beide mehr gemeinsam haben, als ihnen lieb ist. Beide sind sezessionistische Akteure, die einerseits der Gesellschaft den Rücken kehren und andererseits auf diese einzuwirken versuchen. Beide verfechten einen existentiellen Purismus. Beide zeichnen sich durch eine klare corporate identity in Form textiler Codes und Frisuren aus. Beide sind schwerlich in reguläre Arbeitsverhältnisse vermittelbar. Beide verkörpern, zumindest idealerweise, den Typus des homo viator. Wollte man nun einwenden, Mönche seien altruistisch, Punks aber egoistisch, so wird man bei dem Mediävisten Jacques Le Goff eines besseren belehrt: »Er [der Mönch, Anm. d. A.] betet für das Heil anderer Menschen, doch strebt er zunächst nach seiner eigenen Vollendung und seinem eigenen Heil«, zitiert nach: Jacques Le Goff: Der Mensch des Mittelalters, Essen: Magnus 2004, S. 19.

[43] Georg Bollenbeck: Eine Geschichte der Kulturkritik: Von Rousseau bis Günther Anders, München: Beck'sche Reihe 2007, S. 23.

[44] Ebd., S. 19.

[45] Ebd., S. 25.

[46] Vgl. ebd., S. 275.

[47] Vgl. Hans Sedlmayr: Verlust der Mitte: Die bildende Kunst des 19. und 20. Jahrhunderts als Symptom und Symbol der Zeit, Frankfurt/Main; Berlin; Wien: Ullstein 1977, S. 156: »Es wird verkannt, daß zum Wesen des Menschen ›Persönlichkeit‹ gehört, daß aber ›Persönlichkeit‹ nur als Ebenbild Gottes definiert und festgehalten werden kann.«

[48] Für Interviews vgl. v.a. Haenfler und Wood.

[49] Vgl. Arthur Jung (Hg.): Schiller's Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen, Leipzig: Teubner 1875, S. 369: »Mitten in dem furchtbaren Reich der Kräfte und mitten in dem heiligen Reich der Gesetze baut der ästhetische Bildungstrieb unvermerkt an einem dritten, fröhlichen Reich des Spiels und des Scheins, worin er dem Menschen die Fesseln aller Verhältnisse abnimmt und ihn von allem, was Zwang heißt, sowohl im Physischen als im Moralischen entbindet.«

[50] Vgl. Sedlmayer, S. 190: „Das Menschliche ist nicht festzuhalten ohne den Glauben, daß der Mensch – potentiell – Ebenbild Gottes sei und eingeordnet in eine wenn auch gestörte Weltordnung.“

[51] Dabei ist wichtig zu betonen, dass die Intention von Minor Threat mitnichten totalisierend war und Ian MacKay in »Straight Edge« kein Glaubensbekenntnis entwerfen wollte. Vielmehr nahm sXe erst später kryptoreligiöse Züge an.

[52] Haenfler, S. 96.