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Replik auf Marcin Kędzierskis und Michał Kuźs Verteidigung der polnischen Regierungspolitik in DIE ZEIT vom 28.6.2018

Veröffentlicht am 28.06.2018

Seit langem bin ich Freund und Bewunderer Polens. Jedes Jahr verbringe ich ein bis zwei Monate im Land, unterrichte an der Kunsthochschule Poznań, publiziere Artikel über polnische Kunst und Kultur, streife durch die Puszcza Notecka.

Wie die Solidarność-Bewegung das Ende der Sowjetunion einläutete; wie Polen nach Jahrhunderten der Besetzung, Unterdrückung, ja Ausrottung von Teilen der Bevölkerung binnen weniger Jahrzehnte wieder auf die Beine gekommen ist; wie hart die Polen arbeiten und sich weiterbilden; wie lebendig Kultur und Zivilgesellschaft in den größeren Städten sind, verdient höchsten Respekt. Einige meiner besten, langjährigen Freunde sind Polen. Man vergisst heute, dass das keine Selbstverständlichkeit ist. Noch die Generation meines Großvaters blickte auf die Polen verächtlich herab.

Die Entwicklungen im Land seit 2015, als die Partei Prawo i Sprawiedliwość (PiS) die Alleinregierung übernahm, verfolge ich mit Skepsis und Sorge. Nicht, weil alles, was die PiS tut, falsch ist. Wie der Poznańer Stadtaktivist Franek Sterczewski mir 2017 im Interview sagte: "Die PiS weiß genau, wo die Grund­be­dürf­nisse der Menschen liegen. [Sie] brau­chen Wohnungen, also hat die PiS das Programm Mieszkanie+ einge­führt. Die Menschen haben Kinder, also hat sie das Programm 500+ einge­führt. […] Alleine die Art, wie die PiS über die Programme spricht – sie kommu­ni­zieren wirk­lich mit den weniger Privi­le­gierten, den gewöhn­li­chen Menschen und Fami­lien. Sie haben eine posi­tive Stra­tegie, ein posi­tives Programm, nicht nur nega­tive Kritik. Und ich denke, dass die libe­rale und linke Oppo­si­tion kein posi­tives Programm hat." Die größte, von PiS ausgehende Gefahr ist die zunehmende Gleichsetzung von Staat und Gesellschaft, von Volkswille und Recht, von Partei und Polen. Davon ist im Gastbeitrag von Marcin Kędzierski und Michał Kuź für DIE ZEIT nicht die Rede.

Einiges, was die Jungkonservativen ansprechen, ist triftig und nachvollziehbar. Etwa wenn sie schreiben: "Was passiert eigentlich, wenn in Frankreich und Deutschland etwas Ähnliches geschieht wie in Italien – und prorussische Kräfte an die Macht kommen? Wer würde Warschau schützen, wenn Marine Le Pen den Élysée-Palast übernähme? Oder wenn es in Deutschland zu einer Koalition zwischen AfD, FDP und CSU käme? Gerade letzteres Szenario ist keine politische Fiktion mehr, sondern mögliche Realität." Oder wenn es heißt: "Die Deutschen müssen es endlich anerkennen: Warschau ist ein disziplinierter Finanzpartner und ein stabiles Mitglied der Nato wie auch der EU. Die Statistiken zeigen, dass wir alle wichtigen Maastricht-Kriterien erfüllen. In den Verteidigungshaushalt investieren wir mehr, als es die Statuten der Nato erfordern. Niemand spricht in Polen über einen Austritt aus der EU." Für linksprogressive oder linksliberale Westeuropäer mag so manche Haltung der Autoren anstößig wirken. Doch selbst die meisten meiner liberalen Freunde in Polen lehnen muslimische Migranten, wie  Kędzierski und Kuź, rundheraus ab. Polen, so meinen sie, habe genug mit sich selbst zu tun und kümmere sich ja bereits um etwa zwei Millionen Flüchtlinge aus der Ukraine. Wir diskutieren darüber. We agree to disagree. Wir diskutieren weiter.

In manchen Passagen ist Kędzierskis und Kuźs Artikel irreführend, diffus oder klammert Aspekte, die nicht ins Weltbild der Autoren passen, aus. Ich habe elf herausgesucht und kommentiert.

 

 

 

 

1. "Vielfalt" wird hier im ethnopluralistischen Sinne und damit im Sinne des Kulturverständnisses von Herder um 1800 gebraucht: Kulturen bilden Kugeln, die einander berühren, einander aber nicht durchringen können (und sollen).

 

 

 

 

 

 

2. Das ist richtig und verständlich. Allerdings muss man wissen, dass Polen vor den Teilungen 1772, 1793 und 1795 ein multiethnisches, multireligiöses und multikulturelles Großreich war – ganz anders als heute also, da Polen einer der homogensten Staaten überhaupt ist.

 

 

 

 

 

 

 

3. Auch das ist richtig. Jedoch lebten schon nach dem polnisch-sowjetischen Krieg (1920-21) 1,5 Million Ukrainer auf poln. Territorium; Józef Piłsudski strebte eine Föderation u.a. mit der Ukraine an. Die Ukraine ist somit nicht genuin "fremd", sondern Teil der poln. Geschichte.

 

 

 

 

 

4. Ein valider Punkt. Deutschland fürchtete die EU-Osterweiterung, profitierte aber stark davon. Dt. Unternehmen & Konzerne sind omnipräsent in Polen. Was der Artikel nicht erwähnt: Polen zählt zu den größten Nettoempfängern von EU-Geldern.

 


 

 

 

 

 

5. Hier wird es diffus. Die EU "ignoriert" Unterschiede nicht, sie verhandelt sie und fördert u.a. die Sprachvielfalt. Zudem ist nicht klar, wie ein gemeinsamer Markt und Personenfreizügigkeit effizient organisiert werden sollen, wenn jedes Land autonome Gesetze & Regeln schafft.

 

 

 

 

 

 

 

6. Irreführend. Im Report steht explizit, dass die liberale Demokratie gefährdet ist: "Since taking power in late 2015, the … PiS party has enacted numerous measures that increase political influence over state institutions and threaten to reverse Poland’s democratic progress."

 

 

 

 

 

 

 

7. Das trifft nicht zu. Die Justizreform wird sehr viel grundsätzlicher diskutiert und kritisiert, auch unabhängig von der Migrations- und Lohnpolitik. So warnt bspw. die @NZZ vor "Willkürherrschaft".

 

 

 

 

 

8. Einerseits richtig. Andererseits stehen populistisch-prorussische Parteien wie die AfD der regierenden PiS-Partei in vielen anderen Positionen sehr nahe, v.a. in der Migrationspolitik und hinsichtlich ihres ethnokulturellen Nationalismus.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

9. Diese Sorge ist absolut begründet. Allerdings spielt die PiS, und sei es unfreiwillig, der AfD in die Hände, da auch sie die Identität in einer mythischen Vergangenheit, einer homogenen Kultur und einem "Europa der Vaterländer" sucht.

 

 

 

 

 

10. Es trifft nicht zu, dass sich fast alle politischen Kräfte in Deutschland von den USA abwenden. Die Linke und AfD vertreten radikalen Positionen. Die FDP ist weiterhin transatlantisch orientiert, ebenso weite Teile der CDU und einige prominente Grüne (u.a. Özdemir).

 

 

 

 

 

 

11. Eine Halbwahrheit. Populismus ist eben auch ein "Kommunikationsstil" (Thomas Widmer), dessen Verbalgewalt unkontrollierbare soziale & politische Folgen nach sich zieht. Gerade PiS-Chef Jarosław Kaczyński bedient sich der aggressiven Rhetorik von Propaganda und Agitation.