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Nachhaltigkeit ohne Stichhaltigkeit

Veröffentlicht am 09.03.2019

Alle fordern mehr Nachhaltigkeit – aber nachhaltige Lebensstile werden bestraft

Die allgegenwärtigen Plädoyers für mehr Nachhaltigkeit kranken an einer banalen Tatsache: Ein umweltfreundlicher, ressourcenschonender Lebensstil und eine bescheidene Mentalität werden nicht belohnt, weder wirtschaftlich noch sozial noch politisch. Im Gegenteil. Sie werden bestraft. Ein paar einfache Beispiele.

1. In der globalisierten Wirtschaft – aber auch im globalisierten Kunst-, Kultur- und Wissenschaftsbetrieb – haben diejenigen einen Wettbewerbsvorteil, die häufige Flugreisen in Kauf nehmen. Wer letztere ablehnt, kann schwerlich mithalten. Über indirekte Subventionen – keine Kerosinsteuer – wird der Markt für die knappe Ressource Öl strategisch verzerrt. So sind die Preise für Flugreisen, etwa im Vergleich zu Bahnreisen, irrational günstig. Das hat zur Folge, dass Vielflieger nicht nur besser in der globalisierten Wirtschaft mithalten können, sondern auch noch finanziell bevorteilt werden.

2. Geringverdiener werden infolge Mietwuchers aus den urbanen Zentren und Metropolregionen verdrängt. Befindet sich ihre Arbeitsstelle in einem dieser Zentren oder einer dieser Regionen, sind sie zum Pendeln gezwungen. Pendler haben einen per se schlechteren ökologischen Fußabdruck als Menschen, die in der Nähe ihrer Arbeitsstelle wohnen. Ist der öffentliche Nahverkehr schlecht ausgebaut oder benötigen die Arbeitnehmer ein Auto für ihren Job, ist umweltschädliches Verhalten kaum vermeidbar.

3. Wer Nahrungsprodukte aus regionalem und biologischem Anbau kauft, zahlt drauf. Für Menschen mit niedrigem Einkommen bedeutet das, dass sie einen größeren Teil ihres Einkommens für "gute" Nahrung aufwenden müssen als Menschen mit hohem Einkommen, denn Arme und Reiche unterscheiden sich nicht hinsichtlich ihres Energiebedarfs. Entsprechend steht Armen weniger Geld für Altersvorsorge oder Bildung zur Verfügung. Kaufen sie aber keine regionalen oder Bio-Produkte, laufen sie Gefahr, sozial stigmatisiert zu werden.

4. Die sogenannte "immaterielle" oder "postindustrielle Arbeit", etwa in der digitalen Kommunikationsbranche, ist auf den ersten Blick "clean". Doch auch Online-Aktivitäten sind energieintensiv. Jede Google-Suchanfrage, jeder Facebook-Post, jedes Profil-Update kostet Energie. Da in der Aufmerksamkeitsökonomie eine starke Internet-Präsenz unumgänglich ist und auch sonstige Online-Aktivitäten rasant zunehmen, ist die CO2-Bilanz entsprechend.

5. Ob ein Produkt oder eine Dienstleistung wirklich nachhaltig ist, zeigt sich erst, wenn man den Rebound-Effekt mitbedenkt. 1865 veröffentlichte der britische Ökonom William Stanley Jevons seine Studie "The Coal Question". Darin stellte er fest, dass Effizienzsteigerung bei Anlagen und Maschinen nicht zu weniger Verbrauch von Kohle in der Industrie führte. Wird für Hochöfen weniger Kohle verbraucht, steigt der Profit des Unternehmens, was mehr Kapital anzieht. Die Preise fallen, die Nachfrage steigt, die Anzahl an Hochöfen ebenso. Am Ende wird mehr Kohle verbraucht als zuvor. Analog dazu gilt heute: Verringert man etwa den Benzinverbrauch von Autos, fahren die Menschen unter Umständen häufiger Auto, da es billiger und "cleaner" geworden ist. Ähnliches gilt für – vermeintlich – "ökologische" Produkte. Weil es sich gut anfühlt, konsumieren die Menschen nicht weniger, sondern mehr.

6. Ein bescheidener, genügsamer Lebensstil ist schlicht nicht sexy und findet keine soziale Anerkennung. Nur wenn er sich mit klingenden Begriffen wie "Minimalismus" schmückt – de facto: negative Dekadenz – und sich entsprechend vermarktet, erfährt er eine gewisse Resonanz. Für die Stillen, Genügsamen, Bedachten gibt es keinen Platz in der Ordnung des Diskurses. Wer keine Probleme verursacht, wird übergangen. Wer indes spektakuläre Problemlösungen vermarktet, auch für Probleme, die er selbst verursacht hat, erhält Aufmerksamkeit und Anerkennung.

Diese wenigen Beispiele mögen zeigen, dass Nachhaltigkeit ein Lippenbekenntnis bleiben wird, solange stillschweigend die falschen Lebensstile und Verhaltensweisen gefördert werden. Moderner Ablasshandel und "Moralkonsum" (Wolfgang Ullrich) durch teure Bio-Produkte oder "clean technologies" sind nur Feigenblätter, die die wirklichen Probleme verdecken.