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Migration und Flucht im Blick zurück nach vorn: Władysław Reymonts Novelle "Gerechtigkeit" und die europäische Auswanderung des 19. Jahrhunderts im Spiegel der Gegenwart

Veröffentlicht am 15.08.2018

Über die Sommermonate habe ich die Novellen des polnischen Schriftstellers Władysław Reymont (1867–1925) gelesen. Reymont war ein Vertreter des Realismus und Anhänger der Bewegung "Junges Polen" (Młoda Polska). Für seinen Roman "Bauern" (Chłopi) erhielt er 1924 den Nobelpreis für Literatur. Von den Novellen hat mich "Gerechtigkeit" (Sprawiedliwie, 1899) am stärksten beeindruckt – zum einen, weil ich gerade ein Seminar über John Rawls Theorie der Gerechtigkeit vorbereite und Querverbindungen ziehen konnte, zum anderen, weil der Text ein Schlaglicht auf die heutigen Debatten über Flucht und Migration wirft. Reymonts tatsachenbasierter Text zeigt, wie stark Teile Europas im 19. Jahrhundert unter Bedingungen litten, unter denen heute andere Weltgegenden leiden – und wie auch in Europa Menschen infolgedessen ihre Sachen packten und sich Schleppern für eine Fahrt ins Ungewisse, vielleicht sogar ins Tödliche anvertrauten.

Die Handlung der Novelle ist in einem polnischen Dorf auf dem Territorium des russischen Besetzungsgebietes angesiedelt (Polen stand von 1795 – 1918 unter preussischer, österreichischer und russischer Herrschaft). In zeitlicher Hinsicht entspinnen sich die geschilderten Ereignisse irgendwann nach der russischen Bauernbefreiung (1861), vermutlich um 1900 während einer größeren Emigrationswelle.

Die Geschichte ist schnell erzählt: Der junge polnische Bauer Jaschek wird gegenüber dem örtlichen Gutsverwalter handgreiflich. Dieser hatte versucht, seine Verlobte zu vergewaltigen. Aus Rache lässt der Verwalter Jaschek, mit Hilfe korrupter Eliten, ins Gefängnis stecken. Nach zwei Jahren flieht Jaschek und versteckt sich, schwer verwundet, im Haus seiner Mutter auf dem Dorfe. Die "alte Winciorek" – ihren Vornamen erfährt man nicht – ist eine intelligente, angesehene, aber gerade aufgrund ihrer Intelligenz von den Dorfbewohnern misstrauisch beäugte verwitwete Hofbäuerin.

Bald spricht sich herum, dass Jaschek im Dorf ist. Es kommt, wie es kommen muss: Die Familie wird erpressbar, muss sich Schweigen durch Gefälligkeiten erkaufen. Während die klerikale Elite in Gestalt des Pfarrers den Wincioreks Hilfe angedeihen lässt, erweist sich die staatliche Elite in Gestalt des intriganten Schultheiß als Bedrohung – offensichtlich ein Spiegelbild der damaligen polnischen Erfahrungen mit den Besatzungsmächten, unter deren Willkür die Polen vor allem im russischen Teil zu leiden hatten (im preussischen Teil bestand immerhin ein Rechtsstaat, im österreichischen Teil herrschte zwar Armut, aber weitgehend kulturelle Freiheit). Die Kirche hingegen galt als Hüterin der polnischen Identität.

Das Schweigen währt nicht lange. Die Obrigkeit setzt ein Kopfgeld aus, die Dorfgemeinschaft lässt sich manipulieren: "Ein paar Tage summte es davon in allen Häusern des Dorfes, niemand dachte jedoch daran Jaschek zu verraten, aber fünfzig Rubel immerhin ... es, war doch ein schönes Stück Geld. Dieser und jener von den Habsüchtigeren berechnete schon im stillen, was er sich für dieses Geld kaufen könnte ... und liess finstere Blicke gierig schweifen ..."

Mutter, Sohn und Verlobter bleibt nichts, als den Hof zu verkaufen und einen Schlepper anzuheuern, der sie nach Brasilien bringen soll. Zu dieser Zeit fand tatsächlich eine massive Auswanderung von Polen nach Brasilien statt; bis heute leben dort ca. 1 Million polnische oder polnischstämmige Menschen. Allein, das Vorhaben scheitert. Jaschek wird, infolge seiner eigenen Unvorsichtigkeit und Selbstüberschätzung, entdeckt. Er verprügelt den Schultheiß. Erneut muss er fliehen. Dieses Mal vergeblich. In die Enge getrieben, steckt er das Dorf in Brand. Zur Strafe wird er im Haus seiner Mutter verbrannt. Vom Schlag getroffen sinkt diese zu Boden und stirbt, nicht ohne vorher „gerecht! Gerecht! Das ist gerecht!“ gerufen zu haben. So endet das Buch mit dem Zwiespalt zwischen Recht und Gerechtigkeit. Der Lynchmob ist in gewisser Hinsicht im Recht, denn Jaschek hat das Dorf zerstört, hat also auch an Unbeteiligten, etwa an Kindern, Rache geübt. Und doch ist seine Hinrichtung ungerecht: Ohne das ihm zuvor widerfahrene Unrecht wäre es nie soweit gekommen.

Reymonts mit glühender Feder niedergeschriebene Geschichte ist hochaktuell. Der Autor thematisiert Migrations- und Fluchtursachen, mit denen wir auch heute konfrontiert sind: nicht nur mit Armut oder Krieg, sondern auch mit staatlich-behördlicher Willkür, Korruption, Misswirtschaft, Verfolgung aus religiösen oder ideologischen Gründen, Perspektivlosigkeit, Elitenversagen und verführbaren Zivilgesellschaften, kurz: Bad Governance. Das Gefängnis wird dabei als Ort der Radikalisierung, nicht der Läuterung geschildert. Jaschek kehrt traumatisiert aus ihm zurück; sein ihm eigener Jähzorn hat sich durch die Inhaftierung noch verschlimmert.

Ob für die Schuldigen oder die Unschuldigen – Flucht scheint auch dann unmöglich, wenn die Mauern des Kerkers überwunden werden. So fragt sich die alte Winciorek: „Wohin sollten sie fliehen? Auf der ganzen Welt sind doch Gerichte, Gendarmen und Gefängnisse! […] Sie war doch auch bei der wundertätigen Muttergottes in Czenstochau gewesen, auch dort musste sie ihre Papiere vorzeigen; sie war mit dem Pilgerzug in Kalwarya hinter Krakau gewesen, da hatten sie es ebenso gehalten. […] Und es war ihr, als sehe sie überall unübersteigbare Mauern, Reihen von Gendarmen, Kanzleien, Schreiber und ausgestreckte Hände, die bereit waren, den Fliehenden zu packen! Mein Gott! nirgends, gar nirgendwo hin kann der Mensch vor dieser furchtbaren Gewalt flüchten, die sich ihr erst jetzt in ganzer Grausigkeit offenbarte, verkörpert in Gendarmen und Gefängnissen. Die arme Seele verstand nicht den Sinn des Wortes: Recht, und glaubte, es sei dasselbe wie – Gerechtigkeit!“ Es bleibt nur die "neue Welt" als Projektionsfläche für ihre Hoffnungen: Brasilien, die terra incognita.

Heutigen Lesern dürften diese Überlegungen vor dem Hintergrund von Videoüberwachung, Gesichtserkennung, Körperscannern, Smartphonetracking, biometrischen Passbildern, Datenspuren, Rasterfahndung, usf. bekannt vorkommen. Auch das Auseinanderklaffen von Recht und Gerechtigkeit ist angesichts autoritärer Umbrüche, ob in Polen oder in der Türkei, aber auch angesichts der zweifelhaften Konstruktion der EU-Institutionen, von tagespolitischer Brisanz. Die Winciorek, ihr Sohn und alle sonstigen Dorfbewohner kennen zwar Institutionen des Rechts, aber keine gerechten Institutionen.

Trotz eines schon damals als total empfundenen Kontrollapparats und obwohl der Dorfpfarrer die Auswanderung von der Kanzel herab geißelt, machen sich die Menschen auf die gefährliche, illegale Reise nach Brasilien: "Es gingen junge und alte Frauen und Halbwüchsige mit Bündeln auf dem Buckel und schleppenden Schritts, vom Weinen der Angehörigen und hundertfältigen Abschiedswünschen begleitet. Weder die Predigten der Priester, noch der Einfluss der Herrenhöfe und das Aufpassen der Polizei halfen etwas dagegen, das Volk erhob sich, und von den Versprechungen eines besseren Loses geblendet, von der Neugierde nach neuen Ländern aufgepeitscht, liess es alles liegen und zog von dannen." Auch diese Passage mutet vertraut an. Für die Aussicht auf eine bessere und nicht zuletzt gerechtere Existenz, wie diffus diese auch sein mag, riskieren Menschen ihre Familien, ihren Besitz, ihre Gesundheit, ihr Leben. Wichtig in diesem Zusammenhang ist, dass Reymonts Protagonisten Hofbauern sind, also Eigentümer bescheidener Ländereien. Sie sind arm, leiden aber, soweit dies aus der Novelle hervor geht, keinen Hunger. Auch herrscht kein Krieg. Allerdings geht aus Dialogen hervor, dass die Bauern die – 1874 im zunehmend imperialistischen Russland eingeführte – Wehrpflicht als ungerecht empfinden. So wandern denn ganze Dörfer, auch ohne direkte existenzielle Bedrohung, nach Brasilien aus.

Das heute geläufige Narrativ, damaligen Migranten und Flüchtlingen – die Grenzen zwischen beiden sind bekanntlich fließend, wie auch die zwischen wirtschaftlichen, politischen, soziale oder rechtlichen Migrations- und Fluchtursachen – hätten im Gegensatz zu den jetzigen "Einwanderern in die Sozialsysteme" keine (sozial)staatlichen Segnungen gewunken, ist nur bedingt schlüssig. "Sozialsysteme" wie heute gab es im 19. Jahrhundert nicht, insofern hinkt der Vergleich als solcher. Doch in Brasilien lockten Steuerbefreiungen und Landschenkungen – sozialstaatliche Segnungen ex negativo, wenn man so will. Genauso wichtig aber war für die Migranten, frei und selbstbestimmt leben zu können. Viele Deutsche wanderten im 17., 18. und 19. Jahrhundert aus ähnlichen Gründen aus, nach Polen, Russland, Amerika.

Manche würden argumentieren: Der Unterschied zu unserer Gegenwart besteht doch darin, dass die damaligen Flüchtlinge ihrer neuen Umgebung konkreten Nutzen brachten, während heute vor allem Unqualifizierte in die Sozialsysteme einwanderten und diese in Schieflage bringen. Dies mag, kurzfristig gedacht und von Fall zu Fall betrachtet, sogar zutreffen. Doch bekanntlich ist Nutzen relativ, also eine Frage der Perspektive – man müsste letztlich die indigenen Völker der damaligen Zeit befragen, ob sie die Neuankömmlinge als Nutzbringer oder als Störenfriede wahrnahmen. Die Antworten darauf mag sich jede(r) selbst ausmalen. Ein weiterer vermeintlicher Unterschied besteht drarin, dass es heute im Gegensatz zu früher keine terra incognita, kein "unbesiedeltes Land" mehr gibt. Dieser Begriff stellte jedoch immer schon einen Euphemismus dar, war die terra incognita doch für diejenigen indigenen Völker, denen sie faktisch genommen wurde, alles andere als "unbekannt". Insofern ist das Argument, weiland hätten europäische Auswanderer ein "jungfräuliches Land" vorgefunden, während heutige Migranten und Flüchtlinge, etwa aus Afrika und dem nahen/mittleren Osten, in konsolidierte Systeme eindrängen, mit Vorsicht zu genießen. Richtig ist, dass es enger geworden ist auf der Welt. Und Enge, nicht nur räumliche, begünstigt Stress.

Reymonts Novelle zeugt am Beispiel des Justizmissbrauchs im russischen Teilungsgebiet Polens von Frühformen dieses "Dichtestresses" ("wohin fliehen?"). Noch aufschlussreicher ist seine gut recherchierte Schilderung von Migrations- und Fluchtursachen im Europa des 19. Jahrhunderts. Der Autor spielt ökonomische und rechtliche Ursachen nicht gegeneinander aus, sondern porträtiert sie als die zwei Seiten einer Medaille (Bad Governance). In der Novelle dient das ungerechte Recht zur Wahrung der ökonomischen Privilegien einiger Weniger. Rechtslosigkeit bzw. fehlende Rechtssicherheit führt jedoch früher oder später auch zu allgemeiner wirtschaftlicher Misere, da Menschen nicht bereit sind, für ungerechte Systeme Höchstleistungen zu erbringen. Ein klassischer Teufelskreis.

Diese Lektüre kann dazu beitragen, Flüchtlinge und Migranten aus anderen Weltgegenden als Teil einer Geschichte zu begreifen, die auch unsere eigene, die eine europäische ist. Gerade jene, die mit Blick auf Europa von historischen "Überlieferungszusammenhängen" sprechen und sich gegenüber autoritären Unrechtsstaaten apologetisch verhalten, sollte das zu denken geben.