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Kolumne "Die Kunst und alles andere"

Veröffentlicht am 03.01.2019

Seit 2018 bin ich Kolumnist der Stuttgarter Zeitung. Im Abstand von jeweils einem Jahr veröffentliche ich die monatlichen Kurzessays auf meinem Blog.

Lady Gaga vor Geburt der Venus. Früher war die Bildende Kunst Hochkultur und der Pop Unterhaltung. Heute ist der Pop Kunst. Und was ist die Kunst?

Januar 2018

Bildende Kunst, zieh dich warm an! Nicht nur, weil Januar ist. Da ist eine Konkurrenz herangewachsen, die du unterschätzt hast: die Popkultur. Lange beliebtest du zu glauben, dass du auf der sicheren Seite stehst. Pop, das war Entertainment, Spaß, Kurzweiligkeit, Oberfläche. Kunst, das war Reflexion, Kritik, Ernsthaftigkeit, Tiefe, Komplexität. Diese komfortable Arbeitsteilung hat sich nicht nur in unserer Wahrnehmung eingebrannt. Auch in unseren Institutionen, Medien und Ritualen wird sie sinnfällig: Wir haben Kunstakademien und Popakademien, Kunstzeitschriften und Popzeitschriften, Kunstpreise und Poppreise, Kunststars und Popstars. Zwar wirbelt innerhalb dieser Bereiche mittlerweile alles durcheinander. Aber wir klammern uns noch immer an unseren Kategorien fest. Zum einen, weil wir unseren gesellschaftlichen Status über sie definieren. Zum anderen, weil sie uns helfen, die Komplexität der Gegenwart einzudämmen. Allein, damit hinken wir und damit hinkst du, liebe Kunst, der Wirklichkeit hinterher.

Längst verhält es sich so, dass der Pop von der Raffinesse der Kunst gelernt hat, ja dass er im Begriff ist, zu ihr aufzuschließen. Der Hip-Hop-Star Jay-Z arbeitete mit der Grande Dame der Performance-Kunst Marina Abramović zusammen und rappt ganz unbescheiden darüber, dass er der "modern day Pablo", sprich: der neue Picasso sei. Lady Gaga beharrt darauf, nicht nur Pop, sondern "Art Pop" zu machen – und posiert sinnigerweise vor Sandro Botticellis Gemälde Geburt der Venus. Die R&B-Sängerin Beyoncé klaut im Clip zum Song "Hold Up" (2017) nonchalant aus einer Videoarbeit der Künstlerin Pipilotti Rist. Hersteller von Premium-Autos wie auch von Speiseeis knüpfen in Werbespots an den Surrealismus an, während im Feuilleton Computerspiele mithilfe eines Vokabulars besprochen werden, das einst Werken der Avantgarde-Kunst vorbehalten war. In entlegenen Popmusik-Genres wie dem frickelig-aggressiven Math-Core setzen sich Musiker mit so unwahrscheinlichen Themen wie dem De-Stijl-Künstler Piet Mondrian auseinander – brüllend und röchelnd, wohlgemerkt. Kurz, immer öfter bedient sich der Pop freimütig aus der Kunst und erzeugt verwirrende Hybride, die alles zugleich sein sollen: Genuss und Erkenntnis, Spaß und Kritik, Oberfläche und Tiefe.

Der Poptheoretiker Thomas Hecken hat dafür den Begriff "Avant-Pop" geprägt – die Leichtigkeit des Pop, kombiniert mit der Vertracktheit der Avantgarde. Es ist schon ulkig: Die Bildende Kunst ist eifrigst bestrebt, die Unterscheidung "high & low" zu überwinden. Doch innerhalb der Popkultur ist diese wieder relevant. Britney Spears, das ist "Low Pop". Nick Cave, das ist "High Pop." Vielleicht ist es ja wirklich so, wie der Kunsthistoriker Beat Wyss schrieb: "Pop braucht keine Kunst, da er die Kunst ersetzt." Genauer gesagt: Noch braucht er sie. Aber wie lange noch?