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Kolumne "Die Kunst und alles andere"

Veröffentlicht am 23.06.2019

Seit 2018 bin ich Kolumnist der Stuttgarter Zeitung. Im Abstand von jeweils einem Jahr veröffentliche ich die monatlichen Kurzessays auf meinem Blog.

Seit einigen Jahren studiere ich fasziniert die Schriften von Niko Paech, einem Vertreter der Postwachstumsökonomie. Paech argumentiert, der Hype um "grüne Technologien" sei nur ein Feigenblatt dafür, weiterhin exzessiv produzieren und konsumieren zu können. Ohne einen kulturellen Wandel hin zu Bescheidenheit führe der technologische Wandel ins Verderben. Die Forderung des Volkswirts lautet, den Primat des quantitativen Wachstums als solchen aufzugeben. Paech ist dem Prinzip "weniger ist mehr" verpflichtet, wobei "weniger" quantitativ und "mehr" qualitativ gemeint ist. Seine Vision ließe sich als "negative Avantgarde" beschreiben. Genau hierbei könnte er von der bildenden Kunst lernen.

Was in Wirtschaft und Politik als avantgardistisch, ja als "revolutionär" (Erhard Eppler) gilt, ist in der Kunst der Moderne ein alter Hut. Schon die Avantgarden um 1900 sagten den Materialschlachten der Salonkünste wie auch der Fortschritts- und Technikgläubigkeit des liberalen Bürgertums Lebewohl. Statt dessen zeigten sie, dass Reduktion, Verzicht und Vereinfachung zu gesteigerter Intensität und besserer Qualität führen können. Ob Kasimir Malewitschs "Schwarzes Viereck" (1915), Giorgio Morandis lakonische Stillleben oder Sophie Taeuber-Arps reduzierte Formsprache – in diesen Fällen ist der von Paech für die Gesellschaft geforderte "Rückbau" im Kunstwerk am Werk. Anstatt sich im hektischen Ausreizen von Möglichkeiten zu ergehen, fokussierten die genannten Künstlerinnen und Künstler auf das, was sie als wesentlich erachteten. Das war gerade nicht die bedingungslose Modernisierung, der Einsatz aller vorhandenen technischen Mittel oder die Aufwendung möglichst vieler Ressourcen. Oft waren die so entstehenden neuen Kunststile auch von der Suche nach einfacheren Lebensstilen begleitet, ob in der niedersächsischen Künstlerkolonie Worpswede oder auf dem Monte Verità im schweizerischen Ascona. Paech, der sich für alternative Kommunen und Selbstversorgung begeistert, dürfte daran Gefallen finden.

Kurz gesagt, hat die bildende Kunst die "Postwachstumsökonomie" in Form einer "Postwachstumsästhetik" vorweggenommen. Die Herausforderung besteht darin, künstlerische Stile in Lebensstile und formale Ästhetik in eine Ästhetik der Existenz zu übersetzen. Hat sich bildende Kunst in den letzten Dekaden stark an der Ökonomie orientiert, ja deren Modelle, Methoden und Mentalitäten kopiert, stünde ihr heute mehr Selbstbewusstsein gut zu Gesicht. Auch mit Blick auf die Ökonomie gilt, dass Kunst ihrer Zeit, mitunter unwissentlich, oft voraus ist.