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Kolumne "Die Kunst und alles andere"

Veröffentlicht am 10.04.2019

Seit 2018 bin ich Kolumnist der Stuttgarter Zeitung (STZ). Im Abstand von jeweils einem Jahr veröffentliche ich die monatlichen Kurzessays auf meinem Blog. Dieser Text erscheint ausnahmsweise zeitgleich mit der Veröffentlichung in der STZ.

Im Dickicht der Identitäten

Es mag ja gut gemeint sein: Aber je mehr man auf schwammige Zugehörigkeiten setzt, desto mehr gerät man in Widersprüche

In den sozialen Netzwerken zirkulieren häufig Aufrufe, man möge seine Freundschaften und Gefolgschaften überdenken. So gälte es etwa, auf Twitter Frauen und Männern in einem ausgewogenen Verhältnis zu folgen. Oder nicht nur weißen Mitteleuropäern, sondern auch "People of Color". Versucht man ernsthaft, diesen Aufforderungen nachzukommen, findet man sich in einem reißenden Strudel all jener Probleme wieder, die die Identitätspolitik mit sich bringt. Denn tatsächlich sind kaum je nur "Frauen" gemeint, wenn von "Frauen" die Rede ist, und kaum je nur "People of Color", wenn von "People of Color" die Rede ist.

Ein einfaches Beispiel. Man könnte das Ziel, Geschlechter-Parität auf dem eigenen Twitter-Account zu schaffen, einfach dadurch erreichen, dass man Frauen wie Alice Weidel, Marine Le Pen und Melania Trump folgt. Das ist selten im Sinne der Aufruf-Initiatorinnen. Was wiederum hieße, dass Weidel, Le Pen und Trump nicht als Frauen gelten. Schon implodiert die Kategorie "Frau". Meist sind genuin fortschrittliche Frauen gemeint, die einen Beitrag zur Emanzipation leisten. Also müsste der Aufruf lauten: "Folgt mehr emanzipierten Frauen!"

Doch unvermittelt stellt sich das nächste Problem. Sollen Frauen ihr Geschlecht biologisch oder soziologisch definieren? Sind religiöse wie atheistische, linke wie rechte Emanzipierte gemeint? Gibt es überhaupt rechte Emanzipierte? Und was bedeutet "Fortschritt"? "People of Color" ist ebenfalls nicht selbsterklärend. Auch hier geht es meist darum, den aus Sicht der jeweiligen Aufrufer folgenswerten People of Color zu folgen – und damit sind eher selten rechtskonservative Afroamerikaner wie der Ökonom Thomas Sowell gemeint. Der Historiker Erich Keller schrieb unlängst überzeugend auf Twitter, über "historisch kontaminierte Topoi wie 'Hautfarbe' Gruppen zu konstruieren" sei "ein katastrophaler analytischer Rückschritt".

Je mehr auf schwammige Identitäten anstatt auf übergreifende, nicht identitätsspezifische Begriffe wie "Gerechtigkeit", "Freiheit" oder "Macht" fokussiert wird, desto leichter wird es, Menschen gegeneinander auszuspielen. Was kritisch gemeint war, verfestigt vor allem in den überhitzten sozialen Netzwerken Stereotypen, die man eigentlich überwinden wollte. Am Ende zersplittern die Identitäten ohnehin in widersprüchliche Fragmente, was wiederum die Sehnsucht nach homogenen Gruppenidentitäten weckt. Davon profitiert die politische Rechte. Zum anderen sind neoliberale Marktschreier entzückt, da sie jeder neuen Fragment-Identität neue Produkte anbieten können. So wird der Aufruf auch noch zum Marktschrei.