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Kolumne "Die Kunst und alles andere"

Veröffentlicht am 06.03.2019

Seit 2018 bin ich Kolumnist der Stuttgarter Zeitung. Im Abstand von jeweils einem Jahr veröffentliche ich die monatlichen Kurzessays auf meinem Blog.

Allerorten ist zu lesen, was die neuen Medien so mit uns anstellen. Soziale Netzwerke machen uns einsam, heißt es immer wieder. Twitter habe Donald Trump ins Präsidentenamt gebracht, vermeldet eine indische Zeitung. Ein deutsches Blatt orakelt, Instagram verwandle uns in Psychopathen. Facebook drücke "erfolgreich unsere Knöpfe", behauptet Antonio Garcia Martinez, der frühere Produkt-Chef von Facebook. Es ist bizarr: Jahrtausendelang haben wir Menschen versucht, uns der Zwänge der Natur und des Schicksals zu entledigen. Durchaus erfolgreich. Nun knicken wir vor ein paar Algorithmen ein.

In den 1960er Jahren schrieb der kanadische Medientheoretiker Marshall McLuhan: "Das Medium ist die Botschaft." Was damals ein revolutionärer Gedanke war, ist heute eine Steilvorlage für billige Ausreden. Wer im Netz pöbelt, hetzt und intrigiert, kann sich wohlfeil darauf berufen, dass dies nun mal in der Natur der Sache liege. Die Technologie ist schuld, nicht ich! Ich bin eigentlich kein Troll – Twitter hat mich in einen verwandelt! Mit dem gleichen Recht könnten wir sagen: Die Natur macht dies mit uns. Gott macht das mit uns. Die Gesellschaft macht jenes mit uns. Sorry, uns sind die Hände gebunden! Nicht ich bin gerast – das Auto war's!

Natürlich prägen die sozialen Medien uns, aber mehr noch haben wir die Möglichkeit, sie zu prägen. Sprechen wir ihnen die Macht zu, sind Passivität und Schicksalsglaube vorprogrammiert. Ohne Not entmündigen wir uns selbst. Dabei zeigt gerade das Beispiel Twitter, wie vielfältig man Medien, die vermeintlich Narzissmus und Verrohung fördern, nutzen kann. Mit seinen Followern führt der Philosoph Daniel-Pascal Zorn hochfliegende akademische Debatten. Die Guerilla Girls zwitschern gegen Sexismus an. Daily Hegel verbreitet Hegel-Weisheiten in 280 Zeichen. Während feige Pseudonymlinge ihre Gegner als "Vollidioten!" oder "Stasi!" beschimpfen, diskutieren andere mit Anstand, kritisch und ergebnisoffen.

Der Tübinger Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen beschreibt das Internet richtig als "ungemein plastisch". Es habe keine eindeutige Wirkung, könne sowohl für Aufklärung als auch für Hetze verwendet werden. Wir sind also weiterhin frei, zu entscheiden – und damit auch selbst verantwortlich. Twitter und Tourette sind nicht gleichbedeutend. Es ist möglich, Facebook ohne Aluhütchen zu bedienen und in Posts keine Verschwörungstheorien zu verbreiten. Auf Instagram findet man nicht nur Knackpos, Food Porn und Kätzchenkitsch, sondern auch hintersinnige Kunst-Accounts wie den von Amalia Ulman. Kurz: Die Sozialen Netzwerke machen uns nicht zu Idioten. Das bekommen wir immer noch alleine hin.