Ihre Browserversion ist veraltet. Wir empfehlen, Ihren Browser auf die neueste Version zu aktualisieren.

Kolumne "Die Kunst und alles andere"

Veröffentlicht am 09.01.2022

Seit 2018 bin ich Kolumnist der Stuttgarter Zeitung. In unregelmäßigen Abständen und gebührlichem zeitlichem Abstand veröffentliche ich die monatlichen Kurzessays auf meinem Blog.

Diversität für Fortgeschrittene

Vielfalt sollte es nicht nur bei Hautfarbe, Geschlecht und sexueller Orientierung, sondern auch bei Haltung und Temperament geben

In den Jahren 2001 bis 2005 studierte ich am Institut für Kunstgeschichte der Universität Stuttgart. Es war eine gute Zeit. Nicht nur, was die Lehre selbst betraf. Sondern auch mit Blick auf die Vielfalt des Lehrpersonals. Während wir heute "Diversity" vor allem über Hautfarbe, Geschlecht und sexuelle Orientierung definieren, erlebte ich am kunsthistorischen Institut eine Diversity der Haltungen, Methoden, akademischen und politischen Temperamente. Im Rückblick erscheint es mir, als gehe im heutigen Diversityverständnis dieser Gesichtspunkt verloren.

Mit Beat Wyss leitete ein Vertreter der Achtundsechziger-Generation das Institut. Der Schweizer Professor war eine komplexe Figur. In seiner Mentalität begegneten sich progressiver Eigensinn, distinguierter Konservatismus, angloamerikanische Lässigkeit, alteuropäische Gelehrsamkeit und schillerndes Dandytum. Als Linker war er einst beim schweizerischen Staatskonservatismus in Ungnade gefallen, nun fuhr er im Jaguar vor, den kritischen Geist der 80er Jahre noch immer im Kofferraum. Wie ein dialektischer Sidekick wirkte da Reinhard Steiner. In Ganggesprächen bezeichnete sich der Professor selbst als Bellizisten, schimpfte auf den Moralismus der Süddeutschen Zeitung, pochte eisern auf Pünktlichkeit und verfocht konservative kunsthistorische Tugenden wie Kennerschaft. Steiner wiederum fand sein Gegenstück in Verena Krieger. Die Feministin hatte einst die Grünen mitgegründet und als Vertreterin der Ökosozialisten im Bundestag gesessen. Ihre politische Biographie spiegelte sich in ihrer Lehre. Klaus Gereon Beuckers wiederum hatte eine Handwerksvergangenheit als Tischlergeselle und eine Affinität zum Theologischen, während ich Caecilie Weisserts Seminare als wohltuend nüchtern in Erinnerung behalten habe.

Von diesen Konstellationen habe ich ebenso viel gelernt wie von den Seminar- und Vorlesungsinhalten. Zwar kamen Migrantisches und Nicht-Westliches etwas zu kurz. Doch in Stuttgart studierte man in einem Spannungsfeld, wo niemand die Oberhand gewinnen konnte. Die blinden Flecken der einen Mentalität wurden sichtbar in den Positionen der anderen. Ich wünsche mir, dass wir Diversity in diesem Sinne diversifizieren. Diversity ist noch nicht divers genug! Neben dem Pluralismus angeborener Merkmale gilt es, immer auch den Pluralismus der Haltungen, Methoden und Temperamente zu fördern – gerade in der Wissenschaft, wo nichts so tückisch ist wie das, was der polnische Immunologe Ludwik Fleck schon 1935 als geschlossenen "Denkstil" bezeichnete: die Beharrungstendenz von "Meinungssystemen", die schnell in eine "Harmonie der Täuschungen" mündet.