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Exzerpt aus meiner Reportage "Globalisierung im Mikrokosmos" über die Republik Moldau, die Ukraine und Transnistrien

Veröffentlicht am 01.11.2017

"Es ist, als läge der Friedhof selbst auf einem Friedhof. Als sei die Natur im Begriff, ihn zu begraben. Pflanzen aller Art wuchern zwischen den Gräbern, werden hier und da halbherzig zurückgedrängt, kämpfen sich stoisch zurück. Sonnenlicht bricht durch Baumwipfel und bedeckt die Toten mit einer Decke matt pulsierender Flecken. An diesem heißen Julitag des Jahres 2017 dämmert der jüdische Friedhof Chişinăus vor sich hin wie immer. Bis auf zwei ältere Arbeiter, die mit nackten, braungebrannten Oberkörpern träge zwischen den Grabsteinen hantieren, ist der Ort still und menschenleer. Nur die bunten Farben einiger frischer Blumen und ein paar neue Gräber im Norden geben Hinweise darauf, dass er noch in Betrieb ist. Der geradezu klischeehaft verwunschene Ort zeugt von einer wenig bekannten Geschichte der Multiethnizität, Migration und Verfolgung an den Rändern Europas.

[…]

Bessarabien, Moldau und Chişinău spielten im geopolitischen Game of Thrones nie ganz oben mit. Immer schon handelte es sich um eine Zone des Diffusen, Hybriden, Umstrittenen. Doch gerade weil die Globalisierung den Gegensatz von Zentrum und Peripherie hinfällig macht und weil die klaren Fronten des 'nuklearen Patts' (Dan Diner) verschwimmen, haben solche Zonen paradigmatischen Charakter. Sie sind Laboratorien für ein Dasein unter den Vorzeichen des Fluiden und Prekären. Fokussiert die Globalisierungsforschung aktuell auf Großgebilde wie Asien oder den 'globalen Süden', ist sie in der Verschränkung des Fernsten mit dem Nächsten exotistischer Tendenzen nicht unverdächtig, so lohnt ein Blick auf jene Gegenden in Osteuropa, die gerade so weit weg liegen, dass der exotisierende Blick über sie hinweggeht, aber so nahe, dass der assimilierende Blick sie auch nicht trifft."

Der vollständige Text ist erschienen im Merkur, 71. Jahrgang, November 2017, Nr. 822, Link zum Text (bezahlpflichtig)