Ihre Browserversion ist veraltet. Wir empfehlen, Ihren Browser auf die neueste Version zu aktualisieren.

Die Lüge meines Feindes ist Lüge. Die Lüge meines Freundes ist Wahrheit.

Veröffentlicht am 26.11.2016

Auf seiner Facebook-Seite feiert Marc Jongen, einer der baden-württembergischen AfD-Direktkandidaten für die Bundestagswahl 2017, den Wahlsieg Donald Trumps. Jongen, der gerne wortreich die – mutmaßlichen – Lügen der abgehobenen Eliten ("Linksliberale"), des Establishments ("Altparteien") und überhaupt die "Lügenpresse" geißelt, hofiert nun ausgerechnet demjenigen Vertreter der US-Elite, dessen einzige nicht-geschiedene Ehe diejenige mit der Lüge ist. Jongens Offenbarungseid ist paradigmatisch für den neuen, tatsächlich uralten politischen Geist der Gegenwart, ob am Potomac, an der Donau, am Bosporus, an der Weichsel oder am Rhein: Die Lüge meines Feindes ist Lüge. Die Lüge meines Freundes ist Wahrheit.

So reproduziert, ja verstärkt die in vielerlei Hinsicht berechtigte Kritik am Establishment bereits jetzt die Fehler desselben und treibt die grassierende Spaltung der Gesellschaft voran. Anstatt die Gunst der Stunde zu nutzen – allerorten stehen die Zeichen auf Veränderung – und mit vorurteilsfreiem, kritisch-rationalem Blick die Brandherde in Gesellschaft und Politik auf linker wie auch rechter Seite zu bekämpfen, werden die einen Feuer mit ganzen Stauseen der Kritik übergossen und die anderen künstlich angefacht. Wenn Flüchtlingsheime brennen, schweigt der AfDler. Wenn Flüchtlinge Verbrechen begehen, schreit er. Wenn Neonazis marschieren, heult die Linke auf. Wenn Autonome randalieren, ist das legitim. Wenn Trump lügt und die Positionen wechselt wie schmutzige Unterwäsche, jubelt die globale Tea Party. Wenn Merkel ihre Meinung revidiert, gilt sie als Opportunistin und Karrieristin. Wenn der Neoliberalismus die Fundamente von Gesellschaften zersetzt, interessiert das die Globalisierungsgewinner nicht. Wenn Rechtspopulisten die Fundamente von Gesellschaften zersetzen, bricht Wehklagen unter den Globalisierungsgewinnern aus. Wenn die EU Gesetze erlässt, fühlt man sich in Ungarn geknechtet. Wenn die EU Gelder für ungarische Infrastrukturprojekte bereit stellt, hält man die Hand auf. Usw. Usf.

Man zieht sich zurück in die eigenen Filterblasen, mit freundlicher Unterstützung der narzissmussteigernden Social-Network-Algorithmen. Der Zweck heiligt wieder die Mittel. Kaum verhohlene, ja lustvoll zelebrierte Doppelmoral und Selbstentlastungsdiskurse, wohin man blickt. Gut, dass es den syrischen Taschendieb gibt – solange er sein Unwesen treibt, lässt sich von Putins völkerrechtswidriger Krim-Annexion und Kriegsverbrechen in Syrien schweigen. Gut, dass es Trump gibt – so lässt sich besser von den Versäumnissen der Linksprogressiven schweigen. Ausgerechnet die den Eliten vorgeworfene Borniertheit, Blasiertheit, Ideologie, selektive Wahrnehmung und Ignoranz feiern unter den Elite-Kritikern und Pseudo-Alternativen fröhlich Urständ. Wer indes abwägt, wer Kompromisse anstrebt, wer auf unparteiische Weise vermittelt, wer langfristig tragfähige Lösungen sucht, gilt als schwach. Das Verlangen nach Klarheit, Härte, Kälte wächst. Willkommen in den 1920er Jahren.

Um dem Aufstieg der Rechtspopulisten und Alt-Rights, aber auch den eklatanten Schwächen der Linksprogressiven, die dem Aufstieg von Trump, Erdogan, Orban, Petry, Le Pen & Co. offenbar nichts entgegenzusetzen haben, zu begegnen, ist Gegenpopulismus mittel- und langfristig eine fragwürdige Strategie. Linkspopulistische Slogans wie "kein Mensch ist illegal", "die Rente ist sicher" oder Thesen wie "das Geschlecht ist sozial konstruiert" sind in ihrer Idiotie – im Sinne einer verabsolutierten Partikularmeinung – rechtspopulistischen Invektiven wie "Polen ist das Wichtigste" (Jarosław Kaczyński), "Niemand kann verlangen, dass Ungarn sich ändert" (Viktor Orbán) oder "Assimilierung ist ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit" (Recep Tayyip Erdoğan) ebenbürtig. Sie bieten Steilvorlagen für Gegenoffensiven getreu dem kindischen Schema: Wenn der da lügen darf, darf ich auch lügen! Wenn der da Unrecht begeht, darf ich auch Unrecht begehen! Die Zuspitzungen von Populisten verführen dazu, mit Zuspitzungen auf sie zu reagieren und damit eine Kettenreaktion in Gang zu setzen. Statt dessen täte man gut daran, beharrlich dicke Bretter zu bohren, unideologische zivilgesellschaftliche Netzwerke zu bilden (wie die Operation Libero in der Schweiz) und aktivistische Graswurzelarbeit zu leisten, kurzum: Oppositionsbildung zu betreiben im Geiste Immanuel Kants, der die langsame, mühevolle, aber nachhaltige Begriffsarbeit gegen die spontanen und anschaulichen Eingebungen der „Mystagogen“ und „Schwärmer“ in Stellung brachte; oder – ein entlegeneres Beispiel – im Geiste der polnischen "Organischen Arbeit" des 19. Jahrhunderts, welche aus den im Überschwang gescheiterten Aufständen von 1830/31 und 1863/64 die Lehre zog, dass zunächst einmal die Bedingungen der Möglichkeit für Veränderung geschaffen werden müssen, um nicht nolens volens zu einer Stärkung reaktionärer Kräfte beizutragen.

Dass reaktionäres Denken und Handeln sich auch dort breit machen, wo es den Menschen vergleichsweise gut geht, sollte Politikern und Zeitdiagnostikern eine Lehre sein: Menschen sind vergleichende Wesen. Ihre als absolut empfundene Selbstwahrnehmung ist de facto relational. Was gestern als reich galt, gilt heute als arm. Was heute prekär genannt wird, wäre früher als sicher gepriesen worden. Drohender Abstieg kann psychisch schmerzhafter sein als realer Abstieg. In Zeiten der Globalisierung vergleichen sich Deutsche nicht nur mit Deutschen, US-Amerikaner nicht nur mit US-Amerikanern, und Polen nicht nur mit Polen. Sondern Polen mit Deutschen, Deutsche mit US-Amerikanern, usw. Neben den abwärtsgerichteten sozialen Vergleich, der das Selbstwertgefühl steigert, tritt der aufwärtsgerichtete soziale Vergleich und nimmt aktuell an Bedeutung zu: Nicht mit den Ärmsten und Schwächsten, sondern mit den Reichsten und Mächtigsten vergleicht man die eigene Situation. "Denen da oben" geht es viel besser als mir! Und "die da unten" wiederum, die wollen dahin, wo ich bin – also sind auch sie potentiell "die da oben"! Der polnische Historiker Włodzimierz Borodziej erzählte in diesem Zusammenhang folgende erhellende Anekdote: "Ein Freund von mir, der lange im Ausland war […] kam an einen Ort wie [das polnische] Wloclawek und war erstaunt, wie der sich verändert hatte. Im Lebensmittelladen sagte er: Toll, was Sie geschafft haben in 25 Jahren! Die Verkäuferin guckte ihn feindselig an. 'Die da oben haben alles gestohlen, für uns bleibt nichts übrig', sagte die Frau in dem Laden, in dem es vor 25 Jahren nichts gegeben hatte."

Wer diese Ebene des emotionalen, aufwärtsgerichteten sozialen Vergleichs ausblendet oder ihn nur als Dummheit abtut, wird keine erfolgreiche, nachhaltige Politik betreiben können. Er/sie wird denselben Fehler machen wie Hannah Rosin in ihrem linkspopulistisch-linkselitären Buch Das Ende der Männer. In vielen Passagen ist eine gewisse Schadensfreude zu spüren, dass es nun endlich zuende gehe mit der Dominanz der weißen, patriarchalischen, brutalen, selbstgerechten und obendrein so innovationsarmen, uninspirierten, tumben Männer. Auch hier also: Spaltung, umgekehrte Diskriminierung, Hochmut, Wiederholung der Geschichte. Die Alternativen zu den Pseudoalternativen dieser Tage – Achtung: frommer Wunsch! – müssen frei sein von Dünkel, Selbstgerechtigkeit und Unversöhnlichkeit. Die Kritik wiederum muss populär werden, wie es Diderot für die Philosophie forderte, nicht jedoch populistisch – eine feine, aber entscheidende Unterscheidung, die selten getroffen wird. Ansonsten wird es wieder heißen wie in Viscontis Der Leopard: „Alles muss sich ändern, damit alles so bleibt, wie es ist."