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Wenn das Patriarchat vor dem Patriarchat schützen soll

Veröffentlicht am 04.11.2018

Begegnungen in der abchasischen Hauptstadt Sochumi

Bei einem Aufenthalt in der autonomen Republik Abchasien, einem international isolierten russischen Protektorat, das sich 1992/94 in einem Bürgerkrieg von Georgien abspaltete, hatte ich kürzlich Gelegenheit, mit vier jungen Frauen über ihr Selbstverständnis zu sprechen, was Geschlechterrollen betrifft. Die Frauen stammten aus der Mittel- und Oberschicht der Hauptstadt Sochumi, waren zwischen 20 und 30 Jahre alt und verfügten über Auslandserfahrungen; zwei hatten am Institut für Internationale Beziehungen der Universität Sochumi studiert, zwei waren im Kunstbetrieb aktiv und arbeiteten als Übersetzer- sowie Dolmetscherinnen.

Auffällig war, dass alle vier unabhängig voneinander denselben Satz sagten, mit nur geringen Variationen im Wortlaut: In Sochumi fühlten sie sich sicher, da alle Bewohner wüssten, dass sie Brüder und Väter hätten, die sie im Falle des Falles – Belästigung, sexuelle Gewalt, etc. – verteidigen oder rächen würden. Es sei deshalb problemlos möglich, als Frau nachts auf der Straße unterwegs zu sein. Ja, sie fühlten sich in Abchasien freier als im Westen, wo ein derartiger Schutz und derartige Strukturen nicht (mehr) existierten. Auch wertschätzten sie Familientraditionen, die sie "mit der Muttermilch aufgesogen" hätten, und empfänden die hiesigen traditionellen Männer- und Frauenbilder nicht als Einschränkung ihrer Freiheit. Sie seien moderne Frauen, gebildet und berufstätig, und hätten Gelegenheit gehabt, die westeuropäische mit der osteuropäischen Kultur zu vergleichen. Im Westen bestünde Konfusion mit Blick auf Identitäten – sei das etwa Freiheit? Alle vier fühlten sich eher Russland und seiner Regierung verbunden als Westeuropa oder dem angloamerikanischen Raum, kleideten sich jedoch in westliche Mode, konsumierten westliche Popmusik und nutzten die in Kalifornien entwickelten sozialen Netzwerke. Auch sprachen sie sich für Demokratie und Meinungsfreiheit aus.

Die Gespräche ließen mich konsterniert zurück. Wenn es der Männer bedarf, um Frauen vor Männern zu schützen, ob am Tag oder in der Nacht – ist das etwa Freiheit? Faktisch sind jene männlichen Belästiger und Vergewaltiger, vor denen die Frauen durch ihre männlichen Verwandten geschützt werden sollen, ihrerseits Väter und Söhne, die ihre Frauen und Töchter vor Männern schützen sollen, die ihre Frauen und Töchter vor Männern schützen sollen, die ihre... Ein Teufelskreis. Das Patriarchat verschafft sich mithin Legitimation, indem es Schutz vor sich selbst verspricht.

Und was ist mit denjenigen Frauen, die keine Väter und Brüder haben, fragte ich? Sind diese vogelfrei? Nein, versicherte mir eine meiner Gesprächspartnerinnen, in diesem Fall müssten eben andere Verwandte einspringen, etwa ein Onkel. Was aber, hakte ich nach, wenn asymmetrische Machtverhältnisse zwischen den Familien bestünden? Wenn die Männer der einen Familie wüssten, dass sie keine Chance gegen die Männer der anderen Familie hätten? Bräuchte es da nicht unabhängige Rechtsinstanzen und ein staatliches Gewaltmonopol, um das archaische Recht des Stärkeren zu durchkreuzen? Und wie könne überhaupt nachgewiesen werde, dass das System funktioniere, wenn die Rechtsprechung und Rechtsdurchsetzung von den Männern zweier Familien unterhalb des Radars der Öffentlichkeit übernommen werde? Hierauf erhielt ich nur ausweichende Antworten.

Eine ältere abchasische Journalistin, mit der ich ein Interview führte, berichtete mir von einem in den genannten Zusammenhängen bezeichnenden Verbrechen. Ein früherer Mitarbeiter eines ranghohen abchasischen Politikers habe voriges Jahr die 13-jährige Schwester seiner 23-jährigen Freundin vergewaltigt, woraufhin letztere von einem Mitglied ihrer eigenen Familie umgebracht worden sei, da sie für die juristische Aufarbeitung des Falles plädiert und eine öffentliche Auseinandersetzung mit sexualisierter Gewalt gefordert habe. Erstmals sei es daraufhin zu Protesten gegen Sexualverbrechen und zu öffentlichen Diskussionen über das Tabuthema gekommen; mittlerweile habe die Regierung auch eine Ombudsperson eingesetzt. Ja, bestätigte mir eine meiner jungen Gesprächspartnerinnen, in Abchasien stünden überkommene Formen der Selbstjustiz in der Praxis noch oft über dem staatlichen Recht. Manche Familien regelten Angelegenheiten wie das oben beschriebene Verbrechen lieber unter sich – man darf davon ausgehen, dass mit "Familien" vor allem deren männliche Mitglieder gemeint sind. Wie die junge Frau selbst dazu steht, ließ sie offen.

Die Begegnungen machten mir wieder einmal bewusst, wie groß die Unterschiede zwischen Teilen Ost- und Westeuropas noch immer sind. Auf den ersten Blick waren die Frauen genau so, wie sie sich selbst beschrieben – modern, selbstbewusst, berufstätig, gebildet. Auf den zweiten Blick, im vertieften Gespräch, zeigten sich jene – natürlich auch im Westen selbst bestehenden – Divergenzen, die die Theorie von der Globalisierung als homogenisierender Kraft und der umfassenden "Verwestlichung" der Welt fragwürdig erscheinen lassen. Die Realität im vernetzten 21. Jahrhundert ist hybrid, geprägt von Paradoxien und Gleichzeitigkeiten des Ungleichzeitigen. Eine nach gängigem Verständnis "westliche" Lebensweise und traditionalistische, ja archaische Haltungen schließen einander nicht aus. Vielmehr existieren sie häufig in ein und derselben Person nebeneinander. So vernahm ich in Abchasien eine Apologie des Patriarchats nicht aus den Mündern alter Männer (die sie sicherlich auch vertreten hätten), sondern, wenngleich auf indirekte Weise, von jungen, gebildeten Frauen.

Dass meine Gesprächspartnerinnen aus vollumfänglich freien Stücken zu ihrer Haltung gelangt waren, durfte dabei bezweifelt werden; nicht zuletzt aufgrund der auffällig ähnlichen, wie einstudiert wirkenden Formulierungen. Zwar begegnete ich mitnichten unterdrückten, entrechteten, unmündigen Frauen – Abchasien ist eine Demokratie, es besteht Pressefreiheit, Frauen wählen, arbeiten, treten in der Öffentlichkeit auf. Doch der Fortbestand gewaltsamer patriarchaler Strukturen war unübersehbar.