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Phantom Against the Opera

Veröffentlicht am 25.03.2018

Wie ich versuchte, die Oper zu lieben. Und scheiterte.

Seit einiger Zeit versuche ich, Opern zu lieben. Warum, ist mir schleierhaft. Am Alter kann es nicht liegen, dafür hätte ich mich irgendwann einmal jung fühlen müssen. Langeweile verspüre ich auch nicht, ich habe sie verlernt. Wie dem auch sei: Ich scheitere. Wieder und wieder. Die Oper, zumindest in ihrer überkommenen Form, bleibt mir ein Ärgernis. Ich hab's mit Anna Karenina probiert. Mit Parsifal. Mit Nabucco. Alles Fehlanzeige. Nun habe ich herausgefunden, warum.

Erstens verhält es sich mit der Oper wie mit dem Heavy Metal. Bizarr gewandete Sänger schmettern gegen eine übermächtige Instrumentalmaschinerie an und niemand versteht die Texte. Auf Metal-Konzerten ist das egal, ja es gehört sogar zum guten, weil verzerrten, überlauten Ton. Niemand käme da auf die Idee, Songtexte wie Menetekel über der Bühne einzublenden. In der Oper ist aber genau das der Fall. Da man nun mit dem Lesen des Librettos beschäftigt ist, verpasst man die Hälfte des Dargebotenen. Bei Metal-Konzerten ist das Publikum meist ausreichend gebildet und hat die Lyrics der jeweiligen Band wenn nicht auswendig gelernt, so doch sinngemäß verinnerlicht (Tod, Welt schlecht, Maschinenherrschaft, Satan, Apokalypse, Party). In der Oper ist man offenbar nur mit Beipackzettel in der Lage, der Aufführung zu folgen.

Zweitens herrscht auf der Opernbühne eine erschreckende Gesprächskultur. Alle schreien einander nur an: "Aaaannnaaa! Aaaannnaaa!" "Hier was das Tosen! Hier, hier! Waffen! Wilde Ruefe! Wehe!" Da sitzt du in der Loge und denkst: Herrgott, so redet doch normal miteinander! Ihr bekommt ja einen Gehörschaden und wir, die Solidargemeinschaft, müssen am Ende mit unseren Kassenbeiträgen dafür gerade stehen! Aber nein, sogar bei versonnenen Arienmonologen wird tremoliert und gedröhnt weil Ideal leider = mit-der-Stimme-den-Raum-füllen. Das sind keine Umgangsformen, wie sie sich in einer bürgerlichen Kultur geziemen. Warum gibt man diesen armen Musikanten nicht einfach Mikrofone und eine Marshall-Backline? In dieser Hinsicht ist der Film der Oper klar überlegen. Da muss kein überbesetztes Orchester niedergesungen werden, es gibt Mikrofone, Verstärker und ein anständiges Dolby Atmos System. Subtilste Nuancen, bis hin zum ersterbenden Flüstern, sind möglich. Oper hingegen ist ein Genre für Loud Mouths. Schon im Jahre 1806 schrieb die Zeitung für die elegante Welt über zwei Publikumsfavoriten der Pariser Opernwelt: „Ihre Stimme gleicht [sic] jener des Ares, gleicht dem Geschrei von 10000 Mann, und kein Wunder wäre es, wenn die Mauern von dieser Erschütterung einstürzten. Je unmenschlicher sie schrieen, desto lauter klatschten die Pariser“.

Drittens wurden die meisten Opern für eine Ära komponiert, in der die Kundschaft reichlich Zeit hatte. Das Großbürgertum war noch nicht auf Fair-Trade-Siegel bedacht, erfreute sich der sprudelnden Gewinne aus dem Kolonialbusiness und gönnte sich Haushälterinnen, Dienstboten, Gouvernanten. Ganz zu schweigen von der Aristokratie, die sich wie die späteren Bohemiens und Punks vor allem dadurch auszeichnete, nicht zu arbeiten. Da blieb viel Zeit für das Verfassen der Familienchronik, Likörpläuschchen im Salon – oder eben für Opernbesuche. Drei Stunden Eugen Onegin, warum nicht. Fünfeinhalb Stunden Parsifal, kein Problem. Entsprechend zerdehnt und überladen sind viele herkömmliche Opern, voll zäher, schleppender Arien und Rezitative. Anfänglich interessierte sich das Publikum ohnehin nicht brennend für die Handlung und turtelte und tuschelte und fummelte und alberte solange in den Rängen herum, bis Wagner ihm mit deutscher Rigorosität das Licht abdrehte und Schweigen verordnete. Heute sitzt du in deiner Loge und denkst: Herrgott, kommt doch mal auf den Punkt! Ich habe nicht ewig Zeit! Das bisschen Inhalt – verheiratete Russin verlässt biederen Gemahl für feschen Militär, klappt aber nicht, Suizid, Vorhang; naiver Held vitalisiert desolate Gralshüter-Community, Happy End, Vorhang – lässt sich auch kompakter vermitteln. Zumal das Vakuum kaum durch Special Effects kaschiert werden kann. Eineinhalb Stunden Unterhaltung mit ausreichend Bumm-Bumm, wie im Hollywood-Kino, sind realistisch für einen modernen, meritokratischen Menschen, der sein Geld selbst verdienen und nebenbei noch seinen Freizeitstress managen muss.

Viertens sind die sensiblen Sänger ständig vergrippt. Du kaufst ein Ticket, um den grandiosen X zu hören, bekommst aber den halbgrandiosen Z vorgesetzt, weil sich X wieder mal als Barbier von Sevilla für Rossina die Kehle wundgebrummt hat. Der Eintrittspreis bleibt natürlich gleich. Auch hier gebe ich Kino und Fernsehen den Vorzug. In Actionfilmen fällt niemals jemand aus. Du kaufst ein Ticket für Bruce Willis. Du bekommst einen Film mit Bruce Willis. Und seine Stimme: immer top. Darüber hinaus ist die Magie des Filmes ungleich stärker. Bruce Willis ist präsent und absent zugleich; er ballert und rennt und sprengt und rettet als virtueller, in reiner Sichtbarkeit gegebener Bildkörper auf der Leinwand. Kein Pfingstwunder kann damit mithalten. In der Oper, im Theater hingegen – reale, alltägliche Menschenkörper, die so tun, als seien sie jemand anderes. Auf Kindergeburtstagen oder bei bestellten Nikolausbesuchen mag das funktionieren. Aber in der Erwachsenenwelt? Come on.

Fünftens haut es mit den Besetzungen oft nicht wirklich hin. Ein junger, heißer Liebhaber soll gemimt werden, was eine entsprechend Optik verlangt. Aber singen können muss er halt auch. Die berühmte eierlegende Wollmilchsau. Man findet, wenig verwunderlich, keinen geeigneten Darsteller. Also gibt ein älterer, etwas aufgedunsener Herr den freshen Lover. Und schon ist die ganze Geschichte unglaubwürdig. Auch hier ist der Film der Oper voraus. Falls der Casanova eine miese Stimme hat, wird sie halt synchronisiert. Best of both worlds.

Sechstens... Nein, genug des Räsonierens über diese fatale Theatergattung! Nur eines noch. Vor einiger Zeit las ich in Didier Eribons Rückkehr nach Reims: "Wie oft konnte ich in meinem späteren Leben als 'kultivierte Person' die Selbstzufriedenheit besichtigen, die Ausstellungen, Konzerte und Opern vielen ihrer Besuchern bereiten." Opernbesuche lösen bei mir den gegenteiligen Effekt aus. Ich fühle mich unwohl in meiner Haut. Ständig muss ich an Eugene O'Neills fantastisches Bühnenstück The Hairy Ape denken. Dumm nur, dass es mir nicht anders ergeht, wenn ich mich in einer alternativen Subkultur bewege. Das war schon als Teenager in der Heavy-Metal-Szene und als Adoleszenter in der Bodybuilding-Szene der Fall. Der Habitus jener, die in ihrer jeweiligen fein abgezirkelten Szene die Wonnen der Identität erfahren, ob in der Hoch- oder der Subkultur, hat mich stets verstört und abgeschreckt. Das von Eribon beschriebene "Überlegenheitsgefühl", "ostentativ[e] Wohlgefühl" und die "soziale Freude darüber…, … kulturellen Konventionen zu entsprechen" ist mir fremd geblieben. Selbstgenügsamkeit, Selbstgerechtigkeit und Dünkel begegne ich sowohl im Publikum von Napalm Death wie auch im Publikum von Richard Wagner. Und wieder muss ich an O'Neills Hairy Ape denken: "Yuh don't belong wit 'em and yuh know it. But me, I belong wit 'em—but I don't, see? Dey don't belong wit me, dat's what. Get me? Tinkin' is hard— […] I ain't on oith and I ain't in heaven, get me? I'm in de middle tryin' to separate 'em, takin' all de woist punches from bot' of 'em."