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@ Motörhead: Bad Magic als musealisierter Widerstand und widerständige Musealisierung, nebst einigen Bemerkungen zu transkulturellen Aspekten im Gesamtwerk der Band

Veröffentlicht am 17.10.2015

Motörhead-Alben zu besprechen ähnelt dem Unterfangen, jenes Kiesbett im Garten zu rezensieren, auf das ich von meinem Schreibtisch aus blicke. Zwar ändern die Steine immer wieder mal ihre Konstellation, sprießt Unkraut zwischen ihnen hervor, fallen Blätter auf sie oder mischen sich versprengte Steinchen von der Straße unter sie. Doch das Kiesbett bleibt Kiesbett und jeder, der, aus welchen Gründen auch immer, eine Affinität zu Kiesbetten hat, wird das Kiesbett auch mit Unkraut, Blättern und Migrantensteinchen mögen.

Die Steine selbst verändern ihre Form nur über lange Zeiträume und nur in Nuancen. Stoisch und trotzig verharren sie in ihrer selbstgenügsamen Härte. Man tritt auf sie, sie knirschen unwirsch, geben aber schnell Ruhe, wissen sie doch, dass sie den birkenbestockten Flaneur wohl ohnehin um Jahrhunderte überdauern werden. Aufgrund ihres Stoizismus, den multioptionale, pauschaldynamische, zerstreuungshörige Zeitgenossen langweilig oder redundant nennen würden, stellen sie in Zeiten umfassenden Redesigns, Modifizierbarkeit selbst des menschlichen Genoms und jener schnell wechselnden Moden, die den Geist des Kapitalismus am Leben erhalten, etwas Singuläres und Widerständiges dar. Natürlich sind die Kieselsteine deshalb nicht gleich "natürlich" oder "urig". Vielmehr begegnen wir ihnen fast ausschließlich in vorsortierter, gesiebter, geordneter, genormter Form. Und auch Motörhead haben die ihnen vielfach zugeschriebene Aura der authentischen Urwüchsigkeit nicht aus den tiefsten chthonischen Schichten empfangen, sondern mit den Mitteln ihrer Zeit – synthetische Drogen, elektrische Gitarren, Haarspray, Herzschrittmacher – konstruiert und aufrecht erhalten. Aber zumindest sind weder Kies noch Motörhead: originell.

Wer heute, da jeder Banker ein Rebel-Tattoo auf der Schulter und ein Mutprobenpiercing am Hodensack trägt, originell sein will, der sollte besser nicht originell sein. Wer heute, da sich jeder Bio-Joghurt-Konsument als Öko-Rebell fühlen darf, noch kritisch sein möchte, der entsage besser der Kritik. Wer heute noch eine Zäsur darstellen will, der huldige besser nicht jenem selbstläufigen Kult der Zäsur, den die Innovationsmaschinerie der Moderne hervorgebracht hat. Die überzeugendste Form des Widerstands im toleranztrunkenen, vampirischen, sich an der Kritik seiner Gegner nährenden Kapitalismus ist: einfach mal auf "Pause" drücken. Einfach mal Selbstidentität auch und gerade dort behaupten, wo man längst weiß, dass sie nicht existiert. Einfach mal mit dem pubertären Schwach- und Stumpfsinn weitermachen, den man bisher so gemacht hat – obwohl doch im Leben eines jeden braven 21.-Jahrhundert-Menschen, der schöpferischen Zerstörung wegen, grob zehn Jobwechsel, drei Ehen, zwanzig Hobbys und fünf Religionshopser vorgesehen sind. Das maoistische Prinzip der Beweglichkeit ist dem Prinzip des Kapitalismus kongenial. Weitermachen also, auch wenn das, was man da so macht, längst fossiliert, sklerotisch, museal wirkt. Der Kulturkritiker Bazon Brock fordert völlig zurecht: "Musealisiert euch!"

Lange Vorrede, kurzer Sinn: Motörheads neues Album Bad Magic, wie das Gesamtphänomen Motörhead als solches, bietet genau das: musealisierten Widerstand als widerständige Musealisierung. Motörhead sind die byzantinische Ikone unter den Rockbands. Der Kiesel im Knetbett der Popkultur. Ein Zen-Garten, dessen Boden mit der toxischen Asche zweier Weltkriege bestreut ist und von der Band seit Dekaden geduldig beharkt wird. Ein Ritual, das Heraklits Bonmot, man könne nicht zwei Mal in den gleichen Fluss steigen, dahingehend widerlegt, dass es immerhin möglich ist, zwei Mal so zu tun, als ob man in den gleichen Fluss steige. Motörheads riffgewordene Langeweile ist dezidiert unzeitgemäß und das macht sie in einer Zeit, die streberhaft danach trachtet, sich selbst immer voraus zu sein und gleichzeitig, vermittels Ur-Dinkel-Brötchen, Eiszeit-Wassers und Unberührte-Natur-Parks, hinter sich hinausstrebt, dann doch wieder zeitgemäß. Sie sind der utopische Vorschein einer Ewigkeit im Endlichen und damit, ungeachtet ihrer antireligiösen, antikünstlerischen Haltung, doch irgendwie ziemlich kunstreligiös unterwegs: säkulare Erlösung ("rock'n'roll is gonna save your soul"), profane Erbauung ("be good, be true, do whatever you can do"), heillose Inquisition ("tell me who to kill"), apokalyptische Visionen ("dancing with the devil at the end of time"), und so fort. Wie das auf Bad Magic klingt?

Im Tenor zählt das 22. Studioalbum zu den düstereren Motörhead-Alben. Abgesehen von "Electricity" beinhaltet es keinen einzigen Gute-Laune-Song, was sich etwa auf 1916 anders verhielt ("I'm So Bad", "Angel City", "R.A.M.O.N.E.S", "Going to Brazil"). Im Motörhead'schen Gesamtwerk setzt Bad Magic – anders als etwa Inferno mit dem "Whorehouse Blues" oder Bastards mit Mikkey Dees wuchtig-filigranem Drumming – keine, für Motörhead-Verhältnisse, neuen Akzente. Aber wer wollte das von byzantinischen Ikonen oder Zen-Gärten auch erwarten? Die Differenz ist der Wiederholung ohnehin eingepreist, da sich jede Wiederholung in einem neuen Kontext ereignet – Deleuze und Guattari lassen grüßen. Und wie es absurd wäre, den Philosophen Arthur Schopenhauer dafür zu kritisieren, dass er stets darum bemüht war, seine jeweiligen verstorbenen Pudel durch möglichst identische Exemplare zu ersetzen, und wie es absurd wäre, der Appropriationskünstlerin Elaine Sturtevant vorzuwerfen, dass sie möglichst identische Versionen von Kunstwerken Anderer anfertigte und sie als eigene Werke auswies, so wäre es gleichfalls absurd, an Motörhead den Maßstab der erquicklichen Abweichung anzulegen.

Wer sich mit Motörhead beschäftigt, sollte, was angesichts der vermeintlichen Monokulturalität der Band überraschend klingen mag, eine der zentralen Lehren transkulturellen Denkens berücksichtigen: An Stelle des Fetisches der Makro-Unterschiede, der traditionelle Kulturverständnisse prägte und weiterhin prägt, tritt in der Transkulturalität eine Sensibilität für Mikro-Unterschiede. So schreibt Wolfgang Welsch: "Unterschiede gibt es also weiterhin, nur haben sie jetzt eine andere Form als zuvor. Es handelt sich nicht mehr um Unterschiede zwischen nebeneinander stehenden Monokulturen, sondern um Unterschiede von Individuum zu Individuum oder von Gruppe zu Gruppe bei insgesamt anwachsender Gemeinsamkeit. […] Die interne Transkulturalität der Individuen scheint mir der entscheidende Punkt zu sein. Man sollte nicht nur davon sprechen, dass heutige Gesellschaften unterschiedliche kulturelle Modelle in sich befassen ("cultural diversity"), sondern das Augenmerk darauf richten, dass die Individuen heute durch mehrere kulturelle Muster geprägt sind, unterschiedliche kulturelle Elemente in sich tragen." Auf Motörhead bezogen bedeutet das im Klartext: Von Album zu Album bestehen durchaus Unterschiede, was "anwachsender Gemeinsamkeit" jedoch nicht widerspricht. Die Unterschiede sind granularer, nicht elementarer Art. Zudem sind Motörhead dahingehend "intern transkulturell", dass sie die Kulturen von Rock'n'Roll, Blues, Punk und Metal kombinieren und synthetisieren, ohne dass es nach Crossover, einer auditiven Facette des Multikulti, klingen würde. Um noch einmal zum Kies-Beispiel zurückzukommen: Es geht nicht darum, das Alpenmassiv mit dem Kieselstein zu vergleichen. Sondern um die Kunst, sich der Diversität in der vordergründigen Monotonie des Kiesbetts zu öffnen.

Blickt man zurück auf die mittlerweile 40-jährige Geschichte Motörheads, wird deren Vielfalt in der Einfalt evident. Da ist etwa No Sleep ’til Hammersmith (1981), eines der wichtigsten Live-Alben überhaupt und bis zu Bad Magic der einzige Nummer-1-Hit Motörheads. Das Schlagzeug galoppiert wie Fury auf Speed, die Gitarren wecken Assoziationen an Gischtkronen auf stürmischer See. Enthalten sind einige Klassiker des Albums Ace of Spades (1980), darunter „Ace of Spades“ und „(We are) The Road Crew“. Orgasmatron (1986) wiederum ist monoton, archaisch, scheppernd, roh, tollwütig. Das Schlagzeug wuckert neolithisch, Lemmy grummelt und krächzt nicht nur, er schreit auch in höchstmöglichen Lagen („The Claw“). Im titelgebenden Song, dem sinistren, schleppenden „Orgasmatron“, ergeht er sich in apokalyptischen Szenerien – aber zum Glück ist da ja „Doctor Rock“: „I’ve got the medicine you need!“ Der Titel des opening track verweist auf die wahrscheinlichen Nebenwirkungen: „Deaf Forever“. 1916 (1991) markiert Lemmys Umzug nach Los Angeles, wo er seitdem seinen Jack & Coke am Pool und im Rainbow Bar & Grill trinkt. Der Ortswechsel wirkt sich unmittelbar auf Motörheads Musik aus, die auf 1916 ein ungeahntes Facettenreichtum entfaltet. Da ist zum einen harter, euphorischer, lebensbejahender Rock’n’Roll in Uptempo-Nummern wie „The One to Sing the Blues“ und „Going to Brazil“, zum anderen gibt es erstmals sanfte Stücke wie das anrührende „1916“ zu hören, das ganz ohne Gitarren auskommt. Bastards (1993) ist das erste Album mit dem neuen Schlagzeuger Mikkey Dee, der filigrane Härte und noch mehr Metal („Burner“) einbringt. Motörhead klingen zwar etwas technischer und maschineller als früher, doch im Kern ist alles beim Alten: Songs über Krieg, Sex, Rock’n’Roll und die Schlechtigkeit der Zeiten. Mit „Born to Raise Hell“ setzt sich die Band selbst ein Denkmal, das getragene „Lost in the Ozone“ klingt ungewohnt wehmütig.

Motörhead, die es sich leicht machen, machen es uns also nicht leicht, gerade weil alles so einfach scheint. Die Unterschiede zwischen Neuer Musik und den Spice Girls zu bestimmen – eine leichte Aufgabe. Wer indes den Unterschied zwischen einem Album wie Bad Magic und Motörizer bestimmen möchte, muss genau hinhören, muss sich subtilsten Differenzen öffnen. Das Einfache verleitet dazu, es sich selbst einfach zu machen, sich gewissermaßen dem Powerchord anzugleichen. Dabei sollte das Gegenteil der Fall sein: Gerade in der Konfrontation mit dem Einfachen und Vulgären beweist sich wahrer Wille zu Komplexität und Filigranität. Eine Symphonie von Beethoven bietet Steilvorlagen für geistige Höhenflüge. Bei Motörhead-Alben ist etwas mehr Eigeninitiative gefragt.