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Kolumne "Die Kunst und alles andere"

Veröffentlicht am 18.05.2019

Seit 2018 bin ich Kolumnist der Stuttgarter Zeitung. Im Abstand von jeweils einem Jahr veröffentliche ich die monatlichen Kurzessays auf meinem Blog.

Eine Ode an die Ampel

Pausen sind ein Ärgernis der Leistungsgesellschaft. Wie viel mehr könnten wir erreichen, wenn wir ihrer nicht bedürften! Sei es, um Nahrung aufzunehmen, mit Anderen zu plaudern oder im Schlaf unser Gedächtnis zu ordnen. "Ich hasse Schlaf", sagte Arnold Schwarzenegger einmal. Kein Wunder, dass selbst die Pause aufgemotzt worden ist. Sie gilt nicht mehr als Auszeit von der Maloche, sondern als Optimierungsphase, in der man mit allerlei Wellnesszauberei sein Leistungsniveau zu heben hat. Die Pause, aus Sicht der High-Performer ein sinnloser Programmfehler, wird so mit Sinn erfüllt. Wie gut, dass es die Ampel gibt.

Die Ampel!? Tatsächlich spielt sie eine weithin unterschätzte Rolle im Leben moderner Großstädter. Einerseits dient sie der reibungslosen Organisation des Verkehrs. Andererseits zwingt sie uns, die wir bestrebt sind, möglichst schnell und effizient von einem Ort zum anderen zu gelangen, immer wieder zum Innehalten. Die unbeliebten Wartepausen zählen zu den wenigen Momenten, die sich kaum je instrumentalisieren lassen. Sie sind zu kurz, um etwas zu erledigen, und zu lang, um sie zu ignorieren. Deshalb erleben wir sie als Risse in einem planmäßigen, effizienzorientierten Dasein, das uns rund um die Uhr mit Sinn zu versorgen hat. Gelb! Rot! Der zielgerichtete Blick – Shopping! Kulturmeile! Geldautomat! Imbiss! – gerät für ein paar Sekunden ins Taumeln, tastet verwirrt über die Erscheinungen, registriert Details, mit denen er nichts anzufangen weiß. Die Hand greift zum Smartphone, ach was, lohnt sich nicht. Der Kopf pendelt ratlos hin und her, die Gedanken beginnen zu kreisen. Dann das Signal: grün! Weiter im Programm.

Ohne Unterbrechungen wie die Ampelpause wäre das Leben zu erfüllt. Die "grüne Welle" ist tatsächlich eine Horrorvorstellung: endloses optimiertes Gleiten ohne Widerstände, ohne Innehalten, ein perfektes Abbild der 24/7-Gesellschaft. Ampeln erinnern unfreiwillig daran, dass ein Leben, das vollständig dem Wunsch nach Zielstrebigkeit, Sinnhaftigkeit und Effizienz entspräche, einem Erstickungstod gleichkäme. Wenigstens für ein paar Augenblicke verwandeln Ampelpausen uns in "Flaneure", wie sie der Philosoph Walter Benjamin beschrieben hat – zu ambivalenten Müßiggängern des urbanen Raumes. Flaneuren ist die Stadt mehr als nur Mittel zum Zweck. Sie stellt sich ihnen vielmehr als offenes Kunstwerk, das nach Deutung verlangt, dar: "Der Raum blinzelt den Flaneur an: Nun, was mag sich in mir wohl zugetragen haben?" So leuchtet im Ampelsignal die Möglichkeit einer neuen Wahrnehmung auf. Wer bei Rot über die Ampel geht, schlägt dieses Angebot aus.