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Kolumne "Die Kunst und alles andere"

Veröffentlicht am 05.04.2019

Seit 2018 bin ich Kolumnist der Stuttgarter Zeitung. Im Abstand von jeweils einem Jahr veröffentliche ich die monatlichen Kurzessays auf meinem Blog.

Auswege aus der Tyrannei

Die Kreativität könnte bald die letzte Bastion des Menschen sein – doch ihre Überbetonung ruft Kritiker auf den Plan.

 

Menschen sollen heute vor allem eines sein: kreativ. Der Grund dafür ist allerdings wenig originell. Da Maschinen, Roboter und Algorithmen viele unserer Kompetenzen überflüssig machen, bleibt nur die Flucht in die Kreativität. So könnte das, was früher als abwegig, sperrig, verquer oder irre galt, in der Zukunft das letzte sein, worin wir der braven Technik überlegen sein werden. Kunst, ein brotloses Gewerbe? Mitnichten. Eher dürfte das Backgewerbe bald brotlos sein.

Dieser Wandel des Kreativitätsverständnisses hat weitreichende Folgen. Der Kulturwissenschaftler Wolfgang Ullrich wittert bereits eine "Tyrannei der Kreativität". Ein Leben ohne Kreativität gälte mittlerweile als ähnlich nutzlos und unerfüllt wie ein Leben ohne Sexualität oder ohne Beruf. Und wollten auch Künstler wie Joseph Beuys die Menschheit durch Kreativität erlösen, so fungierten sie doch eher als Stichwortgeber der kühl kalkulierenden Innovationswirtschaft.

Da überrascht es nicht, dass Kreativität gerade in der Kunst- und Kulturwelt misstrauisch beäugt wird. So bietet etwa der US-amerikanische Autor Kenneth Goldsmith Hochschulkurse für "Unkreatives Schreiben" an: „In ihnen ist es den Studierenden verboten, auch nur einen Hauch von Originalität und Kreativität an den Tag zu legen. Stattdessen werden sie für Plagiat, Identitätsbetrug, wiederverwertete Essays, patchwriting, Sampling und für das Stehlen und Plündern belohnt." Die deutsche Popgruppe Tocotronic sekundiert und fordert zu scheppernden Akkorden: "Befreit mich von der Barbarei der kreativen Energie / Es leben Fälschung und Kopie!" Leider sind derlei Umkehrungen noch immer ziemlich gewitzt und kreativ – tolle Anti-Ideen, tolle Slogans, applaudieren die Marketingexperten. Gibt es denn gar keinen Ausweg aus der Kreativität?

Keine Sorge! Die Revolution war nie komfortabler. Wer sich gegen die Tyrannei der Creative Industries auflehnen möchte, der tue einfach – nichts. Vor allem smarte Kreativitätskritik ist zu vermeiden, denn die ist immer noch inspirierend. Wahre Kreativitätskritiker sind derart passiv und bieder, dass man sie nicht einmal als Kritiker wahrnimmt. Lästigen Kreativitätsausbrüchen lässt sich zudem durch drei, vier Hefeweizen am frühen Morgen vorbeugen, gefolgt vom einem Dutzend Actionfilmen aus den 1980er Jahren. Als Hobbys bieten sich Puzzeln und Malen nach Zahlen an. Beförderung im Job, Patentanmeldungen und Out-of-the-Box-Thinking sind tabu. Gehenlassen, hängenlassen, seinlassen, ein monotones, ereignisloses, selbstgenügsames Leben – willkommen im Widerstand!