Ihre Browserversion ist veraltet. Wir empfehlen, Ihren Browser auf die neueste Version zu aktualisieren.

Kolumne "Die Kunst und alles andere"

Veröffentlicht am 01.02.2019

Seit 2018 bin ich Kolumnist der Stuttgarter Zeitung. Im Abstand von jeweils einem Jahr veröffentliche ich die monatlichen Kurzessays auf meinem Blog.

Die Schafe des Oligarchen. Wer in einer Kunstblase lebt, verliert den Kontakt zur Realität. Das kommt aber nicht nur in der saturierten westlichen Welt vor.

Februar 2018

Im vergangenen Jahr verspürte ich Überdruss. Seit geraumer Zeit lehre und vermittle ich zeitgenössische Kunst, schreibe über sie, stelle sie aus. Diskutiere mit Kollegen über Kunst und Gender, postkoloniale Theorie, Machtverhältnisse. Nun schien mir, als hätte ich den Kontakt zur Realität jenseits urbaner Zentren und akademischer Diskurse verloren. Als steckte ich in einer Kunstblase, die sich selbstgefällig als Hort von Fortschritt und Aufgeklärtheit verstand. Ich brauchte Urlaub. Also fuhr ich in die Südukraine. In die Steppe. Ins ehemalige Bessarabien.

Von einem Bekannten in der moldawischen Hauptstadt Chisinau hatte ich einen Tipp erhalten: Da draußen, in der Mitte von Nirgendwo, habe ein Oligarch ein apartes Agrotourismus-Ressort gebaut. Nicht nur mit Minigolf. Sondern auch mit Kunst. Aber keine Sorge – nicht so kompliziert, nicht so progressiv. Old School. Ohne Gender. Dafür mit Schafen. Und Lenin. Schafe, Lenin? Da musste ich hin.

Über einen Teppich aus Schlaglöchern, zwischen denen sich Andeutungen einer Straße versteckten, gelangte ich zum Anwesen des Herren Palariev. Der kräftige Ex-Militär, der in der Perestroika-Zeit auf obskuren Wegen zu Reichtum gelangt war, empfing mich und überraschte alsogleich mit einem Kunststück: eine gefühlt mehrstündige Rede mit gefühlt fünf englischen Vokabeln. Dann ging's los.

Hier, der Skulpturenpark! Palariev kauft geschleifte Sowjetskulpturen aus der Region auf und lässt sie zu einem hypersozialistischen Ensemble arrangieren. Unzählige Lenins. Trotzkis. Marxens. Stalins. Weiter!, befiehlt Palariev, noch immer ganz Militär. Schauen Sie! Die weltweit größte Hirtenskulptur! Stolz funkelt aus seinen Augen. Ungläubig stehe ich vor dem radikalvertikalen Monument: eintausend Tonnen Granit, mitten in der Steppe, über 20 Meter hoch. Kommen Sie! Weiter! Da, Schafe! Viele tausend besitzt Palariev. Deshalb stehen auch überall putzige Schafskulpturen herum. Die Gestaltung ist inspiriert von den Ethnien, die in dieser Region lebten. Nun der Höhepunkt – die Gemäldesammlung! Palariev kommandiert mich in den Salon. Alle seine Bediensteten hat er porträtieren lassen. Schöner, als sie wirklich sind, wie er versichert. Warum? Na, damit sie sich an den Gemälden aufrichten können! Und natürlich: seine Schafe: "Diese hier im Rubens-Stil." Und diese? "Rembrandt-Stil!" Bei der darauf folgenden Zwangsweinprobe – austrinken! Noch ein Glas! Kein Widerspruch! – liest er selbstverfasste Gedichte über die Schönheit der Heimat und die Würde der Ahnen vom Smartphone ab.

Ich rumpelte zurück in den Westen. Begann, manisch sämtliche Werke der Gendertheorie zu lesen. Weidete mich an den Schriften postmoderner Philosophen, die mir eben noch prätentiös erschienen waren. Besuchte in schneller Folge Kunstgalerien, Kunsthallen, Kunstvereine. Die sperrigsten, hermetischsten, verquersten, kritischsten Ausstellungen waren mir die liebsten. Dafür bin ich Palariev zu tiefstem Dank verpflichtet.