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Idea und Pragma. Was ich im Geschichtsunterricht lernte (und wenig mit Geschichte zu tun hatte)

Veröffentlicht am 21.12.2017

Im Gymnasium waren wir umgeben von eher blassen Lehrerfiguren. Aber es gab Ausnahmen. Unser Geschichtslehrer in der Oberstufe war streitbar, meinungsstark und er hatte Humor. Vermutlich ein SPDler alter Schule, auf alle Fälle ein Dialektiker. Bevorzugt – und ziemlich unverblümt – wetterte er vor der Klasse gegen die FDP. Deren Werte teilte ich zwar. Die Realexistenz der Partei hohnlachte ihnen jedoch unübersehbar.

Eine Unterrichtsstunde ist mir besonders eindrücklich in Erinnerung geblieben. Es ging um Gewalt, Pazifismus, Militarismus. In diesem Zusammenhang berichtete der Lehrer von einer Episode aus seinem Privatleben. Er hatte den Wehrdienst verweigert, was in den 60er Jahren noch kein Spaziergang war wie in den 90er Jahren. Das Gesetz wollte es so, dass die Verweigerer vor eine Kommission treten mussten. Dort wurde geprüft, ob ihre pazifistische Gesinnung echt war oder nur ein Vorwand.

Zunächst ließ man unseren – späteren – Lehrer über seine pazifistischen Beweggründe räsonieren. Er werde keine Waffe anrühren! verkündete er stolz. Alsogleich gingen die Inquisitoren von der Theorie zur – imaginierten – Praxis über. Angenommen, so fragten sie ihn, er wäre mit seiner Freundin unterwegs, sie gerieten in einen Überfall und der Verbrecher würde sich an der Freundin vergehen. Körperlich wäre er dem Verbrecher unterlegen. Aber zufällig läge da eine Waffe. Was würde er, der Pazifist, in dieser Situation tun? Der Befragte zögerte keine Sekunde: "Den knall ich ab!", rief er.

Sein Verweigerungsgesuch wurde anerkannt.

Keine andere Unterrichtsstunde hat mir so viel über das Verhältnis von idea und pragma vermittelt wie diese. Unser Lehrer war kein Heuchler. Anstatt sich als Heiliger zu inszenieren, gestand er seine Zerrissenheit ein. Ideale ohne Bezugnahme auf Situationen zu entwickeln, ist schön und gut. Situationen sind es meist nicht.