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Harngriff auf die Pissoirt

Veröffentlicht am 10.05.2018

Zur Ausstellung und zum Fanzine "Pissoir Contemporary" der ZHdK-Studierenden Samuel Haitz & Milena Langer habe ich einen Text beigesteuert. Er ist dem Ausstellungsraum als Ausscheidungsraum gewidmet – Samuel und Milena stellten nicht in der Herrentoilette im 7. Stock der Zürcher Hochschule der Künste aus, sie stellten die Herrentoilette im 7. Stock der Zürcher Hochschule der Künste aus.

Seit 1917 ist die Kunstwelt pissed. In diesem auch anderweitig revolutionären Jahr reichte Marcel Duchamp anonym ein – womöglich von der ihm zugeneigten Dada-Baroness Elsa von Freytag-Loringhoven ihm zugeeignetes – Urinal unter dem Titel Fountain zur Ausstellung der New Yorker Society of Independent Artists ein. Das kalkulierte, Massenmedien wie auch Elfenbeintürme erfassende Trickster-Skandälchen – selbstredend wurde das Pissoir als Nicht-Kunst abgelehnt – führte dazu, dass fortan die Frage danach, was Kunst ist, selbst zur Kunst wurde.

Dieser Paradigmenwechsel prägt das Kunstgeschehen bis heute. Immer noch schaufelt man alle möglichen bis anhin kunstfremden Dinge in Kunsträume hinein, um am Duchamp-Effekt teilzuhaben. So ist das Ereignishafte des Ready-mades einer Betriebsroutine gewichen – mal wird in Kunsträumen protestiert, mal gekocht, mal geboren. Frappant ist, dass Duchamps post-auktoriale Intervention infolge der ausufernden Rezeption ihrerseits Züge des auratisch-genialischen, authentisch-auktorialen Meisterwerks ex negativo angenommen hat. Ja, das Ready-made ist nachgerade zu einer Ikone der westlichen Selbstverständnisklischees geworden: smart, cool, gewitzt, subversiv, strategisch, innovativ, antitraditionell – und auch postindustriell: Der Westen denkt und lenkt, konstruieren tun andere.

So verwundert es nicht, dass die chinesischstämmigen Performancekünstler Yuan Cai und Jian Jun Xi im Jahr 2000 in der Tate Modern London versuchten, eine autorisierte Replika der Fountain zu bepinkeln und dergestalt das überauratisierte Ding ins Reich der Gebrauchsgegenstände zurückzupissen. Ihr Harngriff auf die Pissoirt, der Duchamp vermutlich durchaus gefallen hätte, ist ein Myth Buster, wie er im Buche steht: Mag sein, dass das hier fussnotengeadelte Kunst ist. Aber es ist halt auch weiterhin – ein Pissoir! Räsonieren und urinieren – willkommen im Zeitalter der Gleichzeitigkeit!

An diese verwickelte Geschichte knüpfen die vorliegende Publikation und die damit verknüpfte Ausstellung an. Doch was in der Herrentoilette im 7. Stock des Toni-Areals präsentiert wird, ist weder eine weitere Feier des in die Jahre gekommenen Ready-made-Kontext-Transfer-Prinzips noch ein Angriff auf die ohnehin bereits wortreich zu Grabe getragenen Mythen der westlichen Kunst. Vielmehr wird hier der Ausscheidungsraum, ohne irgendwelche Eingriffe oder Schachspielertricks, zum Ausstellungsraum seiner selbst – und damit zur Paraphrase auf Kunstausstellungen als solche, dienen diese doch spätestens seit den chiffonnierseligen Avantgarden nicht zuletzt als Entsorgungsstationen vermeintlich wert- und sinnloser Ausscheidungen der westlichen – und mittlerweile globalen – Konsumkultur: Müll, Reste, Schmutz, Liegengebliebenes, Marginales, Kaputtes, Verwittertes, kurz: Zeug, das vom konsumistischen Metabolismus als unverdaulich exkrementiert, aber von Künstlern wie Kurt Schwitters oder gegenwärtig Justin Gignac als kunstwürdig befunden wird.

So haben sich Museen, Kunsthallen, Kunstvereine und sonstige Ausstellungsorte im Laufe des 20. Jahrhunderts von weihevollen Musentempeln in Orte verwandelt, die einem Bildungsbürger des 18. oder 19. Jahrhunderts wohl als Aborte des Abjekten zweiter (Müll) und mitunter auch erster Ordnung (Piss Christ, Oxidation Paintings, All Together Now) erschienen wären. Der diskursive Raum von Kunstinstitutionen ermöglicht dabei die Valorisierung dessen, was andernorts ohne mit der Wimper zu zucken abgesondert und entsorgt würde – seit Duchamp sind Kunsträume Motoren des Upcyclings: from trash to treasure. Wenn also ein Ausscheidungsraum an der ZHdK in einen Ausstellungsraum verwandelt wird, in dem nichts weiter zu sehen ist als der Ausscheidungsraum selbst, dann handelt es sich um eine gewissermassen Trans-duchamp'sche Ausstellung, die keiner von Künstlern trickreich oder routiniert eingeschleuster Ready-made-Objekte mehr bedarf. Der Ausscheidungsraum selbst ist das Ready-made. Vom Ausscheiden zum Ausstellen ist mitunter nur ein kleiner Schritt.