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Der Furor der Krämerseele oder: What you need, my son... Is a holiday in Switzerland

Veröffentlicht am 03.10.2016

Häufig ist zu hören, die Schweiz sei ein zwar sauberes, sicheres, verlässliches, aber gerade deswegen auch kaltes, seelenloses, krämerisches Land. Anderswo gehe es viel lebendiger, wärmer, menschlicher und spontaner zu. Letzteres, "spontaner", ist sicherlich richtig. Aber lebendiger, wärmer, menschlicher?

Wann immer ich von einer Auslandsreise in die Schweiz zurückkehre, fällt mir, wie wohl allen Reisenden, auf, wie perfekt organisiert, eingerichtet und aufgeräumt der Zürcher Flughafen ist. Die reflexhafte Reaktion: Kalt! Emotionslos! Lebensfern! Doch bei genauerer Überlegung stellt sich die Sache ein wenig anders dar. Was für ein Wille, was für ein Wahnsinn, was für eine Energie hinter diesen makellosen Oberflächen stecken! Es verhält sich ja nicht so, dass sich der Flughafen von selbst organisiert. Verfall ist nicht auf menschliches Zutun, weder auf Imagination noch auf Engagement angewiesen. Es verhält sich auch nicht so, dass das Silikon in den Fugen sich von selbst derart perfekt in selbige einpasst. Jeder Quadratzentimeter dieses Flughafens zeugt von immensem Willen und Begehren, ja in gewisser Hinsicht von Manie, Besessenheit, Furor, Trotz – und damit von etwas genuin Menschlichem.

Und "seelenlos"? Nun, in der Philosophie der Antike wurde die Seele als das, was den Dingen ihre Form gibt, beschrieben. Die Welt beseelen hieß, der ungestalten Materie und den wabernden Gedanken Form zu geben. So gesehen, handelt es sich bei dem perfekt durchgeformten Zürcher Flughafen gerade nicht um ein seelenloses, sondern im Gegenteil um ein gänzlich beseeltes, seelenvolles Gebilde. Das gleiche gilt für die Landschaften der Schweiz, die über weite Strecken mehr Kultur sind als Natur – man scherzt hierzulande gelegentlich, eigentlich wären die Schweizer Bauern gar keine Bauern, sondern Landschaftsarchitekten. Wer einmal die auenlandmäßigen Landschaften im Emmental gesehen hat, wo auf golfrasengrünen, pummeligen Hügelchen pittoreske Vintage-Bäume drapiert sind, weiß, wovon die Rede ist. Und ist der Hang zu Perfektion, Kontrolle, Sicherheit, Planbarkeit, Berechenbarkeit, Zuverlässigkeit und Verbindlichkeit – insofern diese nicht auf autokratisch-patriarchalische Weise aufgezwängt werden – nicht auch eine kritische Erwiderung auf die (krypto)romantischen Kulte des Ausnahmezustands, der Grenzsprengungen und der Unwägbarkeit, wie sie heute nicht zuletzt in den pauschaldekonstruktivistischen Saaltexten zu zeitgenössischer Kunst überwintern? Und ist der Witz an der Sache nicht der, dass genau diese Kritik wiederum als heimliche Romantik verstanden werden kann?

Wer in wirklichen, nicht nur symbolischen Ausnahmezuständen gelebt hat; wer einmal wirklich in die unendliche Semiose eingetaucht ist, weiß Stabilität und Sicherheit zu schätzen – insbesondere dann, wenn sie, wie in der Schweiz, mit einem zumindest im internationalen Vergleich hohen Maß an demokratischer Partizipation und liberalem Geist einhergeht; und mehr noch dann, wenn sie sogar bei einem Ausländeranteil von fast einem Viertel der Gesamtbevölkerung gewahrt werden können. Für alle diejenigen, die einstürzende Dächer, explodierende Chemiefabriken, verdreckte Städte, betrunkene Taxifahrer oder Salmonellen-Tiramisu für Hochämter von Menschlichkeit, Spontaneität und Lebendigkeit halten, gilt der Ratschlag der Dead Kennedys: "What you need, my son... Is a holiday in Cambodia".