Ihre Browserversion ist veraltet. Wir empfehlen, Ihren Browser auf die neueste Version zu aktualisieren.

Alles im Fluss?

Veröffentlicht am 10.06.2017

Bemerkungen zu Bild, Text und Ideologie am Beispiel einer Twitter-Nachricht

Auf Twitter erreichte mich vor einiger Zeit eine interessante Nachricht. Unter der Satellitenaufnahme eines sich durch ödes Terrain windenden Flusses mit grünenden Uferzonen hatte der Absender geschrieben: "@joergscheller1 Ist der Mainstream nicht etwas durchaus fruchtbares, solange er nicht kanalisiert ist?"

 

 

Der Autor des Tweets bezog sich auf eine Aussage aus meinem offenen Antwortschreiben in der Debatte um das abgesagte Podium "Die Neue Avantgarde". Darin argumentiere ich, Mainstream sei "im progressiven Kontext aus guten Gründen negativ besetzt" – und entsprechend der Begriff "Gendermainstreaming" wenig brauchbar. Statt dessen plädiere ich für Begriffe wie "Emanzipation" oder "Gleichberechtigung", da sie milieusübergreifend unmissverständlich seien. Wortklaubereien, sicherlich. Aber wir haben ja nichts anderes gelernt. Andererseits spiegelt Sprache die Wirklichkeit nicht (nur), sondern erzeugt sie auch (mit). Mit der Verzerrung und Instrumentalisierung der Sprache geht die Verzerrung und Instrumentalisierung der Wirklichkeit einher.

Die Verbindung von Text und Bild im Tweet war brillant. Meine Intuition sagte mir: Revidiere dein Urteil! Wenn sich ein breiter, mäandrierender Fluss, in welchem alle Elemente friedlich miteinander in die gleiche Richtung strömen, zwanglos sein Bett schafft und es an seinen Rändern grünt und blüht, was könnte man da gegen den "Mainstream" einzuwenden haben? Und ist der Fluss, wie zu sehen ist, nicht mit einigen schmalen Strömen, die man wohl als Subkulturen interpretieren müsste, verbunden?

Ein paar Minuten später kamen mir Zweifel auf. Ich entsann mich Roland Barthes' Mythen des Alltags (1957). In seinem Buch warnte Barthes vor der Suggestivkraft von Bildern in der Werbung. Sie verwandelten, so Barthes, kontingente Geschichte/Kultur in – scheinbar – evidente Natur. Dabei konterkarieren die jeweiligen Textbeigaben die Ambivalenz der jeweiligen Bilder. Könnte es sein, dass auch die Kombination des Fluss-Bildes und der Textbotschaft ein Beispiel für eine solche Mythenbildung ist?

Was auf den ersten Blick völlig einleuchtend, eben: natürlich und evident erscheint, stellt sich bei näherer Betrachtung als fragwürdig dar. Wenn Natur und Kultur vermittels einer Bild-Text-Kombination kurzgeschlossen werden und der "Hauptstrom" dadurch als positives Leitbild für menschliche Gemeinschaften erscheint, wird impliziert, Menschen seien wie Wasser in einem Fluss, das nur in eine Richtung fließt; oder wie Kieselsteine, Erde und Pflanzen, die sich willenlos vom Strom aus ihrem Kontext lösen, mittragen und anderswo anspülen lassen. Manche, von Natur aus hart und beständig, verharrten in ihren Positionen, weshalb der Fluss sich eben um die Hindernisse herumwinde. Genau so ist der nicht-kanalisierte Mainstream entstanden. Das Wasser verhandelt nicht. Es fließt, reißt die gleichsam Schwachen mit, weicht den Starken aus. Läßt sich das wirklich auf menschliche Gemeinschaften übertragen? Ich bezweifle das. Menschen möchten ungern weggespült werden, wollen vielmehr gefragt werden, mitreden, mitbestimmen. Das nennt man Politik.

Zwischen Wasser, Erde, Wurzeln, Steinen, zwischen Fluss und Ufer, zwischen Hauptstrom und Zufluss besteht kein politisches oder soziales Verhältnis. Hier gelten nur die Naturgesetze. Was sich als schönes Bild eines harmonisch gewachsenen, friedvollen, "natürlichen" Ganzen darbietet, eignet sich nicht als Sinnbild für Kulturen und politische Gemeinschaften. Barthes Warnung, Geschichte und Kultur als Natur auszugeben, gilt hier im umgekehrten Sinne: von Natur auf Kultur zu schließen oder die – im Kern nun mal grausame – Natur, genauer gesagt: deren Bild als Vor-Bild für Politik und Gesellschaft zu verwenden, mündet letztlich in die Ideologie.